Das hätten wohl die wenigsten Eltern gedacht: Statt die neuesten Hits aus dem Radio zu feiern, hören viele Jugendliche die gleiche Musik wie einst ihre Eltern. Auf den Handys der Jugendlichen läuft etwa «Forever Young» (1984) von Alphaville, «Gangsta's Paradise» (1995) von Coolio und L.V. (mit gesampeltem Stevie Wonder) oder «Unwritten» (2004) von Natasha Bedingfield. Die Songs werden so häufig gestreamt, dass sie sogar wieder in den Schweizer Charts auftauchen, so wie es alle oben genannten Titel dieses Jahr taten.
Das Verrückte dabei ist, dass manche Songs sogar noch populärer sind, als sie es zur Zeit ihrer Veröffentlichung vor mehreren Jahrzehnten waren. Vor zwanzig Jahren erreichte Bedingfields Titel «Unwritten» als beste Platzierung den 26. Platz der Schweizer Hitparade. Im Frühling 2024 aber war das Lied in der Schweiz plötzlich auf Platz 4 aller in der Hitparade verzeichneten Songs. Anfang Juli 2025 rangierte «Unwritten» immerhin noch auf Rang 97 – anders als die allseits beliebte und oft im Radio gespielte Taylor Swift, die derzeit nicht in den Schweizer «Top 100 Singles» auftaucht.
Grund für dieses Phänomen sind die Trends auf der Teenie-App Tiktok. Dort wird nämlich praktisch jedes gepostete Video mit eingängiger Musik unterlegt. Influencer führen zu den Songs Tänze auf, versuchen sich an Challenges oder reissen lustige Grimassen, um möglichst viele Views zu erhaschen. Das klappt am besten, wenn die gespielte Musik besonders eingängig ist – und dafür sind jahrzehntealte, gut erprobte Hits eben ein passendes Mittel.
Oft sind die Videos eine Minute oder nur eine halbe lang, was grad reicht für die bekanntesten Passagen eines Hits. In der Musikbibliothek von Tiktok sind üblicherweise exakt die Song-Teile verfügbar, die das stärkste Ohrwurmpotenzial aufweisen. Damit erhalten Tiktok-User die virale Essenz eines Songs zugespielt. Den griffigen Refrain, das treibende Riff, kurzum: das, was süchtig macht.
Dabei muss die Musik im einzelnen Tiktok-Video nicht zwingend im Vordergrund stehen; je nach Beitrag dient sie auch eher als akustischer Filter, der einem Video eine bestimmte emotionale Tönung verleihen soll. Weshalb sich insbesondere solche Songs hervortun, die eine spezifische Gefühlslage benennen und/oder auslösen sollen.
Die Jugend-Hymne «Forever Young» läuft meist unter Clips, deren Inhalt nostalgisch zurückblickt. Den düster-coolen Rap-Song «Gangsta’s Paradise» nutzen Influencer für Videos, die ebenfalls als «badass» wahrgenommen werden sollen. Natasha Bedingfields Feelgood-Nummer «Unwritten» hingegen ist beliebt für lebensbejahende Beiträge.
Manche dieser altgedienten Klassiker, etwa «Forever Young», scheinen alleine dank Tiktok-Trends zu Hypes geworden zu sein. Andere gelangen prominent auf die Plattform, nachdem sie ein Film oder eine Serie wieder populär gemacht hat.
Kate Bushs Song «Running Up That Hill» (1985) ging viral auf Tiktok und chartete, nachdem er 2022 in der Serie «Stranger Things» zu hören war. Dasselbe gilt für die Hits «Murder on the Dancefloor» (2001) von Sophie Ellis-Bextor und «Unwritten» von Natasha Bedingfield. Die Songs trendeten zunächst auf Tiktok, nachdem sie erfolgreiche Filme verwendet hatten: «Murder on the Dancefloor» lief zur Schlussszene von «Saltburn» (2023), «Unwritten» sangen die beiden Hauptfiguren der Liebeskomödie «Wo die Lüge hinfällt» (2023).
Die Künstlerinnen zeigten sich darüber so überrascht wie erfreut. «Das ist ganz schön wild, aber ich finde es super», kommentierte Ellis-Bextor die neue Beliebtheit ihres alten Hits. «Ich weiss gar nicht, was ich dazu sagen soll, diese Welle der Liebe ist so unfassbar», meinte Bedingfield.
Dass Filme oder Serien ältere Musik wieder ins Bewusstsein rufen, ist nicht grundsätzlich neu. Neu aber ist die Kraft und Geschwindigkeit, mit der die aktuelle, von Kurzvideos geprägte Social-Media-Landschaft die wiederentdeckten Songs auf Abermillionen von Usern versprüht.
Allein die Präsenz in Filmen oder Serien hätte wohl kaum gereicht, um Songs wie «Running Up That Hill», «Murder on the Dancefloor» oder «Unwritten» zurück in die Charts zu drücken. Es brauchte die Verbreitung via Tiktok und nachfolgend Tiktok-User, denen die gehörten Songschnipsel derart gut gefielen, dass sie die Songs in ganzer Länge auf ihrer bevorzugten Streamingplattform hörten. Denn anders als die Zahlen von Tiktok fliessen jene von Spotify & Co. direkt in die Berechnung der Charts ein.
Damit verdrängt Tiktok zunehmend die Vormachtstellung von Radiosendern und Streaming-Plattformen wie Spotify, die bisher im Musikbusiness den Ton angaben. Zu bestätigen scheint das auch ein Blick auf die ewige Bestenliste der Schweizer Hitparade. Dort finden sich in den Top Ten ausschliesslich Songs, die schon einmal für virale Tiktok-Trends gebraucht wurden.
Die Entwicklung, dass Tiktok alte Songs wieder in die Charts bringt, betrifft nicht nur die Schweiz: In den USA oder Grossbritannien ist sie vielfach noch extremer.
So zu sehen bei Weihnachtssongs. Dass diese regelmässig im Dezember in die Charts klettern, ist zu beobachten, seit Streaming in die Charts einzahlt. Doch etwa Mariah Careys «All I Want for Christmas Is You» (1994) springt seit den letzten fünf Jahren um Weihnachten herum nicht bloss in die US-amerikanischen Billboard-Charts, sondern an deren Spitze.
Was faustgenau mit dem Aufkommen von Tiktok zusammenpasst: Die Social-Media-Plattform entstand 2018 aus der Vorläuferapp Musical.ly. Und erst seit ihrem Durchbruch 2019 ist «All I Want for Christmas Is You» jeweils die Nummer eins der an Weihnachten gehörten Songs in den USA. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Grossbritannien, wo Whams «Last Christmas» zum ersten Mal 2021 – rund 36 Jahre nach der Veröffentlichung – dank Tiktok zur Nummer 1 in den Charts wurde.
Demnach zeigt sich Tiktok hier als Trendmaschine, die alte (wie auch neue) Songs auf ihre Viralität hin abklopft und bereits bestehende Trends beschleunigt. Wobei die so generierten oder verstärkten Trends nicht auf die Plattform beschränkt bleiben. Die Chartplatzierungen dürften zu einem Grossteil damit zusammenhängen, dass User die Songs durch Tiktok als Ohrwurmschnipsel entdecken – aber danach eben den ganzen Song auf Spotify oder Apple Music streamen. (aargauerzeitung.ch)
Als Teenie habe ich damals auch alte Platten von meinem Vater gehört. Gute Musik ist zeitlos.