Mit seinem Buch «Slouching Towards Utopia» knüpft Bradford DeLong an das Werk seines Berufskollegen Robert Gordon an. Dieser hat in seinem Buch «The Rise and Fall of American Growth» aufgezeigt, dass der wirtschaftliche Fortschritt des Westens im Wesentlichen zwischen 1870 und 1970 stattgefunden hat. In dieser Zeit haben die entscheidenden Erfindungen (Elektrizität, Auto, Pharma) und die hygienischen Verbesserungen (Wasserklo, Abwasserkanäle, Kläranlagen) stattgefunden und diese prägen noch heute unseren Alltag.
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich der wirtschaftliche Fortschritt der Menschheit im Schneckentempo bewegt. Seit Christi Geburt bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts erhöhte sich der Lebensstandard für die Menschen durchschnittlich gerade mal um 1,5 Prozent – pro 100 Jahre. Selbst die Industrielle Revolution, die 1750 begann, änderte in den nächsten 120 Jahren danach kaum etwas.
Die Menschheit steckte in einer Falle, die der Pfarrer und Ökonom Thomas Malthus wie folgt zusammenfasste: Jeder wirtschaftliche Fortschritt wird sogleich durch eine wachsende Bevölkerung aufgefressen. Der überwiegende Teil der Menschen befand sich daher in einem Zustand, den der Philosoph Thomas Hobbes schon im 17. Jahrhundert legendär zusammengefasst hatte. Ihr Leben war «hässlich, brutal und kurz».
Drei Gründe haben gemäss DeLong dazu geführt, dass die Menschen zumindest im Westen der Malthus-Falle entrinnen konnten. Es sind dies «die Entwicklung des industriellen Forschungslabors, der moderne Konzern und richtig billige Transportwege zu Land und zur See». Sie ermöglichten, dass nicht nur eine winzige adlige Minderheit die Früchte der Industrialisierung und der Globalisierung geniessen konnte, sondern in wachsendem Masse auch eine aufstrebende bürgerliche Mittelschicht.
Die Zeit zwischen 1870 und 1914 wird auch die Belle Epoque genannt. Zu Recht. In dieser Periode verdreifachte sich der wirtschaftliche Output der westlichen Industriestaaten, der Lebensstandard der Menschen verdoppelte sich. John Maynard Keynes, der bedeutendste Ökonom des 20. Jahrhunderts, sprach daher von einem «wirtschaftlichen El Dorado».
Anders als Gordon bezieht DeLong auch die Geopolitik in seine Überlegungen ein. Die Politik, respektive der Erste Weltkrieg, war es denn auch, der den Marsch in Richtung Utopia jäh unterbrach. Stumpfsinniger Nationalismus, angetrieben von einem Adel, der seine überholten Privilegien verteidigen wollte, stürzte Europa in den Ersten Weltkrieg, eine menschliche Tragödie und eine ökonomische Katastrophe.
Zugleich zerbrach mit dem Ersten Weltkrieg auch die Weltordnung. Grossbritannien, das bisher als Hegemonie-Macht die Fäden der Weltpolitik in der Hand gehalten hatte, fehlte die Kraft, diese Funktion weiter auszuüben. Die aufstrebende Supermacht USA hatte keine Lust dazu. Das Resultat war ein Chaos, in dem jede Nation ihren Vorteil auf Kosten der anderen suchte – und alle dabei verloren.
Auch bei den Ökonomen herrschte Zwist. DeLong zeigt dies am Beispiel der beiden Protagonisten Friedrich Hayek und Karl Polanyi auf. Hayek ist der Papst des freien Marktes. Er predigt, dass allein der Markt für Wohlstand sorgt und deshalb nicht durch staatliche Eingriffe gestört werden darf. Für Polanyi hingegen ist der Markt nicht Selbstzweck, sondern muss stets in den Dienst der Menschen gestellt und daher reguliert werden.
Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich zunächst die Theorie von Hayek durch. Auf den Börsencrash 1929 reagierten die Wirtschaftspolitiker und Notenbanker mit einer harten Fiskal- und Geldpolitik. Das Resultat war eine sich immer schneller drehende Deflationsspirale, die in der Grossen Depression mit Massenarbeitslosigkeit und Massenelend mündete. Politisches Chaos und ökonomische Sturheit ermöglichten so Faschismus und Kommunismus und führten direkt in das Gemetzel des Zweiten Weltkriegs.
Erst die wohl schlimmste Katastrophe der Geschichte brachte die Menschen wieder zur Vernunft. In den Fünfzigerjahren wurde der Marsch in Richtung Utopia wieder aufgenommen. Ermöglicht wurde dies durch eine «erzwungene Heirat», wie es DeLong nennt, zwischen Hayek und Polanyi. Die Einsicht, dass ein ungeregelter Markt zur Katastrophe führt, hatte sich durchgesetzt. Im Westen erlebte der Sozialstaat seine Blütezeit. Ein geregelter Markt sorgte für Wohlstand. Dank einer progressiven Steuer und sozialen Errungenschaften wie der Altersvorsorge und der Krankenkasse wurde dieser Wohlstand gerechter verteilt.
Die Folge davon war eine neue Blütezeit, vergleichbar mit der Belle Epoque. Auch diese Ära hat einen französischen Namen, man spricht gemeinhin von den «Trente Glorieuses», von den glorreichen dreissig Jahren. Die Unternehmer und Wirtschaftspolitiker hatten endlich erkannt, dass «Keynes und seine Vollbeschäftigungspolitik nicht ihre Feinde, sondern ihre besten Freunde waren», wie DeLong schreibt.
Warum die glorreiche Ära zu Ende ging und im Laufe der Achtzigerjahre durch den Neoliberalismus abgelöst wurde, ist letztlich ein Rätsel. Tatsache bleibt, dass die Irrlehren von Hayek wieder Aufschwung erhielten, die Erkenntnisse von Polanyi jedoch erneut in Vergessenheit gerieten. Der Neoliberalismus wurde mit dem Versprechen legitimiert, er würde der erlahmenden Wirtschaftsdynamik neuen Auftrieb verleihen.
Diese Versprechen wurde jedoch nie eingelöst. Im Gegenteil: «Der Neoliberalismus hat weder zu neuen Investitionen geführt, noch zu mehr Unternehmertum, noch zu einem beschleunigten Wachstum der Produktivität, noch hat er die Löhne und Einkommen der Mittelschicht wieder hergestellt», schreibt DeLong.
Vielmehr hat der Neoliberalismus die Globalisierung in Verruf gebracht und erneut zu einer schmalen Schicht von Superreichen geführt, deren Einkommen und Vermögen längst jenseits von Gut und Böse sind.
Die Finanzkrise 2008 und die darauffolgende Grosse Rezession haben den letzten Rest vom Sexappeal des Neoliberalismus zerstört. Er hat jedoch auch nicht zu einem Paradigmenwechsel geführt. Der Marsch in Richtung Utopia ist wieder ins Stocken geraten: Die Produktivität der Wirtschaft wächst kaum mehr.
DeLong befürchtet, dass wir wieder in eine Zeit geraten, die viele Gemeinsamkeiten mit den Dreissigerjahren haben wird. Sein Buch endete daher auf einer düsteren Note: «Wir haben fast gottähnliche Möglichkeiten, die Natur zu beherrschen und uns zu organisieren. Warum haben wir so wenig unternommen, es auch nur in die Nähe unserer Utopien zu bringen?»
Na das ist doch genau dass, was nun wieder passiert…
Überall sind die Rechten in der Politik auf dem Vormarsch und es gibt ein paar wenige Stinkreiche die fast alles besitzen und ihre Pfründe schützen…