Für Gottlieb «Dutti» Duttweiler war der Fall klar - die Migros verkauft keinen Alkohol. Punkt. Das hinderte seine Nachfolger an der Spitze der Genossenschaft in den Jahren darauf allerdings nicht, dieses heilige Alkoholverbot stetig auszuhöhlen. Bei der Warenhaustochter Globus gab es edle Weine, beim zugekauften Discounter Denner Bier und Spirituosen à gogo. Inzwischen verkaufen selbst Geschäfte, die den Migros-Namen mit sich tragen, Alkohol, wie Migrolino oder Migros Voi.
Doch nun kommt - wieder einmal - die Frage aufs Tapet, ob auch die klassischen Migros-Supermärkte künftig Feldschlösschen-Dosen, Bordeaux-Flaschen und Vodka-Shots verkaufen sollen. Im Sommer wurde bekannt, dass die Delegiertenversammlung des Detailhändlers aufgrund eines internen Vorstosses schon bald Farbe bekennen muss.
Die Migros wollte sich in der Folge nicht gross zur promillehaltigen Frage äussern. Doch nun geht sie in die Offensive. Im neusten «Migros-Magazin» inszeniert sie die Alkohol-Frage als Symbol ihrer demokratischen Organisation, wo Kundinnen und Kunden, die an der Migros beteiligt sind, mitreden können. In ihrem hauseigenen Magazin schreibt die Händlerin: «Der Entscheid der Genossenschafterinnen und Genossenschafter ist für die Migros verbindlich. Das ist Migros-Demokratie, ein in der Schweizer Wirtschaft einzigartiger Prozess zur Entscheidungsfindung.»
Zudem legt die Migros im Artikel detailliert den Zeitplan für die Alkohol-Frage vor. Demnach beginnt der Prozess am kommenden Samstag. Auf Antrag von fünf Delegierten und nach Annahme durch die Migros-Verwaltung unter dem Vorsitz von Präsidentin Ursula Nold entscheidet die Delegiertenversammlung über die Frage, ob die Statuten geändert werden sollen, um den Alkohol-Verkauf zu erlauben.
Alles ganz einfach also? Nicht beim komplizierten Migros-Komplex. Denn die allfällige Statutenänderung ein mehrstufiger Entscheid. Sie betrifft die Verträge der zehn regionalen Migros-Genossenschaften mit ihrer Zentrale, dem Migros-Genossenschaftsbund in Zürich. Sagt die Delegiertenversammlung, die von Marianne Meyer-Müller präsidiert wird, ja zum Antrag, geht die Frage an die maximal 2.27 Millionen Genossenschafter.
Die Migros schreibt dazu: «Nach einem einzigartigen, demokratischen und komplexen Prozess, in den am Ende nicht weniger als 32 verschiedene Organe der Migros involviert sein könnten, wäre eine Änderung der Statuten möglich, womit der Verkauf von Wein, Bier und Spirituosen in den Regalen der Migros erlaubt wäre.»
Doch der Reihe nach: Sollten mindestens zwei Drittel der Delegiertenversammlung zustimmen, kommen in einem nächsten Schritt, bis zum 3. Dezember, die Verwaltungen und Genossenschaftsräte der zehn regionalen Migros-Genossenschaften zusammen. «Die regionalen Organe müssen dann für ihre jeweilige Genossenschaft entscheiden, ob sie der Aufhebung des Alkoholverkaufsverbots ebenfalls zustimmen und ob sie die Frage in einer Urabstimmung den Genossenschafterinnen und Genossenschaftern vorlegen.»
Danach heisst es Warten. Jene Genossenschaften, die sich für eine Statutenänderung ausgesprochen haben, müssen bis am 4. Juni 2022 eine Urabstimmung durchführen. Die Frage: «Möchten Sie das Alkoholverkaufsverbot in den Migros-Filialen aufheben und der Anpassung der regionalen Statuten zustimmen?» Es ist nur ein Ja oder ein Nein möglich.
Im Verlauf von 2023 könnte es dann so weit sein: Die Migros könnte Alkohol verkaufen. Allerdings nur in den Filialen von regionalen Genossenschaften, deren Mitglieder sich mit einer Mehrheit von zwei Dritteln für die Aufhebung des Verbots ausgesprochen haben. Die Situation aus Kundensicht wäre bizarr. So schreibt die Migros selbst: «Je nach Ergebnis sind also regionale Unterschiede möglich – vielleicht würden Filialen der Genossenschaft Luzern künftig Wein verkaufen, während dies in den Supermärkten der Genossenschaft Ostschweiz weiterhin nicht gestattet wäre.»
Fragt sich auch, ob Migros-Chef Fabrice Zumbrunnen nach wie vor die gleiche Meinung wie bei seinem Amtsantritt 2018 hat. Damals sagte er auf die Frage dieser Zeitung, ob die Migros Alkohol verkaufen soll: «Nein, definitiv nicht.»
Es wurden ja schon viele Regeln gekippt