Die Schweiz lockert die Corona-Massnahmen beinahe vollumfänglich.
Dies hat weitreichende Folgen für die Wirtschaft. Dementsprechend positiv sind die Reaktionen. Aber es gibt auch mahnende Worte.
Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) fordert nach dem Entscheid des Bundesrats eine Aufgabenteilung zur weiteren Bewältigung der Pandemie zwischen Bund und Kantonen. Denn die Pandemie sei noch nicht vorbei.
Zwar gingen die Fallzahlen zurück, teilte die GDK am Mittwoch mit. Doch seit der Aufhebung der Quarantänepflicht habe die Testaktivität stark abgenommen und die Positivitätsrate sei weiterhin sehr hoch. Dies lege den Schluss nahe, dass die realen Ansteckungszahlen weit höher lägen.
Weil aber die Belastung der Spitäler rückläufig sei, gebe es gute Gründe für Zuversicht und die vom Bundesrat beschlossenen «umfassenden Lockerungen». «Wir können nun [...] einen grossen Schritt in Richtung Normalität gehen», hiess es.
Trotzdem erachtet es die GDK als verfrüht, das Instrument der Zertifikatspflicht bereits jetzt zu entsorgen. Denn damit könnten künftige Schliessungen verhindert werden. Ausserdem liefen Arbeiten, um neben der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen auch verschiedene Szenarien vorzubereiten.
Es werde nicht einfach sein, die Ausnahmeregelung der Maskentragpflicht im öffentlichen Verkehr durchzusetzen. Das sagte Ueli Stückelberger, der Direktor des Verbands öffentlicher Verkehr (VöV), nach dem Entscheid des Bundesrats am Mittwoch.
Sie akzeptierten den Entscheid und versuchten, ihn bestmöglich umzusetzen, sagte Stückelberger auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Doch sie befürchteten, dass die Akzeptanz für die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr abnehmen könnte.
Für sie wäre es ideal gewesen, wenn die Massnahmen überall gleichzeitig aufgehoben worden wären. Denn die Sonderlösung im öffentlichen Verkehr sei nun viel schwieriger zu kommunizieren. Deshalb hofften sie, dass die Ausnahmeregelung wenigstens nicht allzu lange andauern werde.
Die Aufgabe der Maskenpflicht in den Läden habe sich angesichts der sinkenden Fallzahlen aufgedrängt. Entsprechend begrüsst die Swiss Retail Federation «diesen grossen Schritt in Richtung Normalität».
In Eigenverantwortung hielten die Mitglieder von Swiss Retail die übrigen Schutzmassnahmen wie Lüftungs-, Abstands- und Hygieneregeln trotzdem noch vorläufig bei, teilte der Verband am Mittwoch mit. Diese sollten erst «bei einer weiteren Entspannung der Infektionslage schrittweise» abgebaut werden.
Bis dahin empfehle der Verband dem Ladenpersonal, im Kundenbereich weiterhin eine Maske zu tragen. Und er ermuntere die Arbeitgeber, solche zur Verfügung zu stellen. Aufgehoben werden sollen ab Donnerstag jedoch auch die freiwilligen Kapazitätsbeschränkungen in den Geschäften.
Auch der Schweizer Detailhandelsverband begrüsste «diesen grossen Schritt in Richtung Normalität». Die Aufhebung der Maskenpflicht in den Läden habe sich angesichts der sinkenden Fallzahlen aufgedrängt. In Eigenverantwortung empfehle der Verband dem Ladenpersonal jedoch weiterhin, im Kundenbereich eine Maske zu tragen.
Und der Wirtschaftsverband Economiesuisse zeigte sich überzeugt, dass die Aufhebung der Zertifikatspflicht für öffentlich zugängliche Innenräume und der Maskenpflicht am Arbeitsplatz Wirtschaft und Gesellschaft spürbar entlasten werde. Menschen, die sich vor einer Ansteckung schützen wollten, könnten dies weiterhin problemlos tun.
Die Aufhebung eines grossen Teils der Massnahmen sei «ein Sieg der Vernunft und des beharrlichen Drucks der Wirtschaft». Endlich sei der Bundesrat den Forderungen nachgekommen, teilte der Schweizerische Gewerbeverband (SGV) mit.
Mit seinem Entscheid sei der Bundesrat «auf den Pfad der evidenzbasierten Politik» eingeschwenkt. Die besondere Lage müsse jedoch bereits Ende Februar aufgehoben werden. «Es ist Freedom Day und das Land braucht dringend und schnell wieder die Normalität zum Wohl von Gesellschaft und Wirtschaft», hiess es.
Der wissenschaftlichen Taskforce wirft der SGV «Fehleinschätzungen» und «manipulative Kommunikation» vor. Diese hätten die Bevölkerung stark verunsichert und den Bundesrat zur Verhängung des schädlichen Lockdowns bewegt. Deshalb fordere der SGV, dass «die Rolle der Taskforce und ihr Versagen detailliert untersucht werden».
Gastrosuisse ist erleichtert über die Aufhebung der «schädlichen Zertifikatspflicht». Der aktuelle Entscheid des Bundesrates sei ein grosser Schritt zurück in die Normalität. Die wirtschaftliche und personelle Lage im Gastgewerbe bleibe aber weiterhin ernst. «Die Freude in der Branche ist riesig, endlich wieder alle Gäste bedienen zu dürfen», liess sich Gastrosuisse-Präsident Casimir Platzer in einer Medienmitteilung vom Mittwoch zitieren. Auch die Gäste freuten sich.
Knapp 700 Tage lang hätten die gastgewerblichen Betriebe mit teils massiven Einschränkungen leben müssen, heisst es in der Medienmitteilung. Die Umsätze in der Branche seien gemäss Daten von Gastrosuisse und der Konjunkturforschungsstelle KOF 2020 und 2021 gegenüber 2019 um rund 40 Prozent eingebrochen. Das entspricht laut Gastrosuisse einem wirtschaftlichen Schaden von über 20 Milliarden Franken.
Die wirtschaftliche und personelle Lage im Gastgewerbe ist laut dem Branchenverband weiterhin ernst. Es werde Zeit brauchen, bis sich die gastgewerblichen Betriebe erholt hätten. Während der Pandemie seien im Gastgewerbe 17'414 Covid-Kredite in Anspruch genommen worden. Viele Betriebe hätten grosse Probleme, die Kredite bereits jetzt zurückzuzahlen, habe eine Umfrage von Gastrosuisse gezeigt.
Die Schweizer Nachtkulturunternehmen sind erleichtert über die Aufhebung der Zertifikatspflicht. Die Zertifikatspflicht sei eine grosse wirtschaftliche Einschränkung gewesen.
Als eine der ersten Branchen hätten die Nachtkulturunternehmen bereits im März 2020 ihre Türen schliessen müssen, heisst es in der Mitteilung der Schweizer Bar & Club Kommission (SBCK) vom Mittwoch. Seitdem habe es keine Phase gegeben, in der im Nachtleben nicht mindestens eine Schutzmassnahme habe umgesetzt werden müssen.
Das Nachtleben lasse sich aber nicht in ein Take-Away-Angebot umwandeln, Streams und virtuelle Clubwelten ersetzten nie die Quintessenz der Nacht, in der es um soziale Nähe und um physisch wahrnehmbare Musik gehe, schreibt die SBCK weiter.
Mit der Einführung von 2G und 2G+ im Dezember sei es zu massiven Umsatzeinbussen gekommen. Da dies die umsatzstärkste Zeit des Jahres sei, habe dies die Nachtkulturunternehmen hart getroffen, zumal die Reserven nach fast zwei Jahren Pandemie aufgebraucht seien.
Es sei unklar, wie schnell das Publikum wieder in die Clubs zurückkehren werde, heisst es in der Medienmitteilung weiter. Um Konkurse im Nachgang der Pandemie zu vermeiden, brauche es jetzt bei den Kantonen Tempo und eine Umsetzung der neuen Härtefallverordnung mit Augenmass.
Es sei klar, dass die Pandemie noch nicht vorbei sei, teilte die SP am Mittwoch mit. Auch mit den Lockerungsschritten dürften die vulnerablen Personen nicht vergessen werden, die sich nicht impfen lassen könnten. Deshalb sollte die Maskenpflicht in den Einkaufsläden beibehalten werden, solange die Fallzahlen so hoch seien.
Mit Blick auf den Herbst fordert die SP die Kantone auf, sich bereits jetzt vorzubereiten, die Reservekapazitäten in Spitälern aufzubauen, Schutzkonzepte für die Schulen auszuarbeiten und die Test- und Impfmöglichkeiten sowie die psychologische Unterstützung sicherzustellen. Zudem brauche es ein Monitoring für Long Covid.
Auch die FDP verlangt, dass der Bundesrat und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) «zwingend Lehren aus den Geschehnissen der letzten zwei Jahren» ziehen muss, wie sie mitteilte. Nur so könne verhindert werden, dass die gemachten Fehler wiederholt würden.
Dafür brauche es eine nachhaltige Impfstrategie zur schnellen Bekämpfung einer künftigen Pandemie, die Sicherstellung einer flexiblen und ausreichenden Anzahl Spitalbetten mit genügend Personal, die Einrichtung eines Krisenmanagements mit einem Bundeskrisenstab und die Beschleunigung der Digitalisierung der Verwaltung.
Die Digitalisierung im Gesundheitswesen ist auch für die Mitte-Partei ein Anliegen. Zudem müssten »Prozesse und Ressourcen in der Gesundheitsversorgung krisentauglich ausgestaltet und die Versorgungssicherheit« gestärkt werden. Auch die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen im Krisenfall müsse überprüft werden.
Zwar sei die Schweiz dank des solidarischen und rücksichtsvollen Verhaltens der Bevölkerung »alles in allem glimpflich durch diese zwei Pandemie-Jahre gekommen.« Das Vertrauen in die Institutionen und die Demokratie habe sich bewährt. Doch bei aller Zuversicht müsse man wachsam bleiben, um rasch reagieren zu können.
Die SVP bezeichnete den Entscheid des Bundesrates in einem Communiqué vom Mittwoch als «längst überfällig». Vor allem die «diskriminierende Zertifikatspflicht» in Restaurants, Kultur- und Freizeiteinreichungen hätte schon lange beendet werden müssen. Denn ganz offensichtlich habe sie die Verbreitung des Virus nicht verhindert. Dasselbe gelte für die Maskenpflicht im öV.
«Völlig unverständlich» sei, dass der Bundesrat an der besonderen Lage festhalte. Diese sei durch nichts zu rechtfertigen und müsse per sofort aufgehoben werden. Und schliesslich fordert die SVP «eine lückenlose Aufarbeitung der Corona-Politik des Bundesrates. Dieser habe damit einen immensen Schaden angerichtet.
Grünen-Präsident Balthassar Glättli und GLP-Präsident Jürg Grossen (ZH) bezeichneten die noch geltende Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr als richtig. Für den Schutz der besonders vulnerablen Personen sei das wichtig, schrieb Glättli auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.
(aeg/sda)
Nein, ist er nicht. Er hat gemäss der aktuellen Pandemie Lage entschieden und nicht wegem dem Druck des SGV.