Herr Flassbeck, gelingt François Hollande mit der vom ihm angeordneten Regierungsumbildung der Befreiungsschlag?
Nein, er war bis anhin nicht in der Lage, Frankreich aus der wirtschaftspolitischen Misere zu befreien und wird es auch in Zukunft nicht sein. Mit der Regierungsumbildung kuscht er vor der deutschen Wirtschaftspolitik und manövriert sich in eine Sackgasse. Er ist genau da, wo er vorher war.
Wirtschaftsminister Arnaud Montebourg, der dem linken Flügel der Sozialisten angehört, ist weg. Er kritisierte Hollande scharf: «Als zweitgrösste Wirtschaftsmacht in der Eurozone kann es nicht sein, dass wir uns den ideologischen Leitlinien von Deutschland beugen.»
In der Sache hat er vollkommen Recht. Die Austeritätspolitik (siehe Box) ist grandios gescheitert. Wer das nicht sieht, ist entweder blind oder verblendet. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, ein sturer Verfechter der Austeritätspolitik, hat im vergangenen Jahr behauptet, Europa sei nun auf gutem Weg. Auf gutem Weg? Tatsächlich steht Europa am Abgrund, eine neue Rezession steht vor der Tür, die Arbeitslosigkeit steigt weiter. Wenn sich die Wirtschaftspolitik Europas nicht schleunigst erneuert, sieht es zappenduster aus.
Was muss geschehen?
Wir brauchen Nachfragepolitik, eine Anregung durch höhere Schulden der Staaten. Ich sage das so provokativ, weil wir endlich begreifen müssen, dass es kein Sparen ohne Schulden gibt und dass Länder wie Deutschland und die Schweiz nicht auf alle Ewigkeit darauf vertrauen können, Schuldner im Ausland zu finden.
Wer hat versagt?
Vorneweg die Mainstreamökonomen, in deren Schlepptau die Politik.
Eine politische Front gegen die europäische Austeritätspolitik ist also nicht abzusehen?
Ich hatte gehofft, dass sich Hollande bei den Deutschen nicht derart anbiedert. Nun, das Gegenteil ist geschehen, wie wir jetzt sehen. Frankreich und Italien hätten eine politische Front gegen Deutschland bilden können, doch diese Chance haben sie vertan. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi verstrickt sich in eine wilde Mischung von ‹Reformen›, die nicht weit führen werden. Die Folge auch dort: Populisten wie Beppe Grillo könnten künftig die Geschicke der drittgrössten Volkswirtschaft lenken. Wir opfern Europa auf einem wirtschaftsdogmatischen Altar und niemand scheint es zu merken.
Warum sind die Forderungen nach Austeritätspolitik und Kürzungen nach wie vor politisch dominant?
Weil wir ein kollektives Versagen der politischen Klasse haben, die unfähig und unwillig ist, sich einer offenen Auseinandersetzung zu stellen.
Hollande wird angesichts des Nullwachstums und der Arbeitslosigkeit an Steuerentlastungen für Firmen festhalten. Wird sein Plan aufgehen?
Die Gesamtmischung dessen, was die französische Regierung beschlossen hat, ist restriktiv. Ein paar Steuergeschenke hier und da bewirken nichts. Frankreich dürfte zudem auch, wie die anderen angeschlagenen Länder, versuchen, sich mit Lohnkürzungen aus der Krise zu befreien – mit verheerenden Folgen.
Welchen?
Eine solche Wirtschaftspolitik wird die Krise verschärfen, die Arbeitslosigkeit weiter erhöhen und es wird die Wähler in Frankreich direkt in die Arme des Front National treiben. Marine Le Pen darf sich schon jetzt die Hände reiben. Ihre Chancen auf das Präsidentenamt für 2017 sind gestiegen. Die Europawahl und der damit verbundene Sieg des Front National war nur das Vorspiel.
Was muss sich ändern, damit genau das nicht passiert?
Frankreich hat sich als Mitglied der Währungsunion vorbildlich verhalten. Es ist nicht Frankreichs Schuld, dass Deutschland Lohndumping betreibt. Die Lohnentwicklung insgesamt muss korrigiert werden, aber von unten nach oben und nicht von oben nach unten. Lohnsenkung zerstört die Binnenkonjunktur. In den südeuropäischen Ländern hat die Binnennachfrage einen Anteil von 75 Prozent. Wenn man die Löhne senkt, senkt man die Binnennachfrage, das will niemand. Wenn man die Löhne um 20 Prozent senkt, dann senken die betroffenen Menschen sofort ihre Nachfrage um 20 Prozent.
Als Folge davon bricht die Wirtschaft ein.
Ja, die Wirtschaft bricht ein und die Arbeitslosigkeit steigt. Wenn man umgekehrt in Deutschland die Löhne kräftiger als bisher erhöhen würde, dann würde dies dazu führen, dass mehr nachgefragt wird. Genau das ist notwendig. Deutschland würde dadurch mehr importieren, und die südeuropäischen Länder hätten eine zusätzliche Exportmöglichkeit.
Sogar EZB-Chef Mario Draghi sagte kürzlich, dass die Sparpolitik mit weiteren Massnahmen ergänzt werden müsse. Die Bekämpfung der Deflation mittels einer lockeren Geldpolitik steht ganz oben auf der Liste. Ein valables Mittel?
Dies aus dem Mund Draghis zu hören, ist neu und ermutigend. Doch der Kampf gegen die Deflation kann nicht mit Geld allein gewonnen werden. Japan ist das beste Beispiel für eine gescheiterte Geldpolitik. Wie gesagt: Die Löhne in Deutschland müssen steigen und der Staat muss kreditfinanziert investieren. Wir brauchen ein ausgewogenes Verhältnis von Angebot und Nachfrage.
Ihre Prognose für die Eurozone?
Wir werden wieder in eine Rezession rutschen. Das könnte dazu führen, dass Europa vollends auseinanderbricht. In diesem Szenario würden wieder vermehrt Lösungen auf nationaler Ebene gesucht. Schon heute ist klar, dass die Nationalisten in den kommenden Jahren einen Höhenflug erleben werden und womöglich Europa den Todesstoss geben. Und wir werden das offenbar erst merken, wenn der Schaden angerichtet und es zu spät ist.