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Darum sind weibliche Amokläufer so selten

Nasim Aghdam verletzte am Youtube-Hauptsitz vier Menschen und nahm sich danach das Leben. 
Nasim Aghdam verletzte am Youtube-Hauptsitz vier Menschen und nahm sich danach das Leben. Bild: EPA/SAN BRUNO POLICE DEPARTMENT

Darum sind weibliche Amokläufer so selten

04.04.2018, 20:2005.04.2018, 12:35
Daniel Huber
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Die Schützin, die am 3. April im Hauptquartier von Youtube um sich schoss, mehrere Leute verletzte und sich dann das Leben nahm, ist ein krasser Einzelfall. Nur höchst selten sind es Frauen, die solche Taten begehen – von allen 97 «Mass-Shootings» in den USA zwischen 1982 und Februar 2018 sind es nur drei, in die weibliche Täter involviert waren.

Auch bei den in den USA so häufigen Schulmassakern war bisher nur eine einzige Frau unter den Tätern; die 16-jährige Brenda Spencer, die 1979 zwei Menschen in einer Schule in San Diego erschoss. Tatsächlich sind Amokläuferinnen derart deutlich die Ausnahme, dass sie besonderes Aufsehen erregen. 

Brenda Spencer 1979
Spencer «rechtfertigte» ihre Tat mit dem Spruch: «I don't like Mondays.»Bild: News Limited

Kein Wunder, wenn man einen Blick auf die Kriminalstatistik wirft. In der Schweiz waren 2017 von allen 78'394 des Verstosses gegen das Strafgesetzbuch Beschuldigten nur 18'399 weiblich – das sind weniger als ein Viertel. Bei schweren Delikten wie Körperverletzung ist die männliche Dominanz noch ausgeprägter. Die durchschnittliche Geschlechterverteilung beträgt in Europa bei Körperverletzungsdelikten 1:13 bei den Tatverdächtigen und 1:14 bei den Verurteilten. Wegen dieses Delikts inhaftiert sind sogar 33-mal so viele Männer wie Frauen. 

In den USA begehen Frauen lediglich zwischen 10 und 13 Prozent der Tötungsdelikte, und sie verwenden dazu seltener Schusswaffen als Männer – nur acht Prozent der Schützen bei Tötungsdelikten mit Schusswaffen sind weiblich. Dagegen sind es 40 Prozent bei Vergiftungen. 

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Was sind die Gründe für diesen eklatanten Unterschied in der Delinquenz der Geschlechter, wenn es um Massaker geht? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten – es gebe schlicht zu wenig Fälle, in denen die Täter weiblich sind, stellte der Psychologe James Garbarino 2015 gegenüber Livescience.com fest. 

Testosteron und Machtgefühl

So bewegen sich mögliche Erklärungen eher im Bereich der Vermutungen und Hypothesen. Oft wird angeführt, Männer seien im Durchschnitt physisch stärker, es sei daher schwieriger, sie bei einem Amoklauf zu überwältigen. Es ist allerdings nicht einsichtig, weshalb allein dieser Umstand Frauen von solchen Taten abhalten sollte. 

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Andere Stimmen schieben die Schuld dem Testosteron zu: Ein höherer Pegel des männlichen Sexualhormons – was bei Männern üblicherweise der Fall ist – führe zu erhöhter Aggressivität. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass umgekehrt Gewalt zu einem höheren Testosteronspiegel führt. Das Hormon erzeuge nicht Aggression, sondern bereite den Körper darauf vor – und zwar bei beiden Geschlechtern. 

Womöglich liegt der Unterschied in der Motivation, die Täter und Täterinnen zu ihren verheerenden Handlungen treibt. Männer scheinen eher ein Massaker zu veranstalten, um damit gewissermassen Macht zurückzugewinnen. Dies geschieht nach einer Phase, in der sie das Gefühl entwickeln, die Kontrolle über ihr Leben eingebüsst zu haben. Gewalt und Aggression – stereotypisch «männliche» Eigenschaften – stellen dann die Mittel dar, sich seiner männlichen Identität zu versichern. 

Bei den wenigen Frauen, die ein Massaker verübten, scheint ebenfalls ein Bedürfnis vorhanden zu sein, Macht und Kontrolle zurückzugewinnen. Olga Hepnarová zum Beispiel, die 1973 in Prag mit einem Lastwagen absichtlich in eine Menschengruppe fuhr und acht Personen tötete, schrieb in einem Bekennerbrief: 

«Ich bin eine Einzelgängerin. Ein zerstörter Mensch. Ein von den Menschen zerstörter Mensch […] Ich habe die Wahl – mich zu töten oder andere zu töten. Ich wähle – die Rache an denen, die mich hassen. Es wäre zu einfach, diese Welt als unbekannte Selbstmörderin zu verlassen. Die Gesellschaft ist zu gleichgültig, zu Recht. Mein Urteil ist: Ich, Olga Hepnarová, das Opfer eurer Bestialität, verurteile sie zum Tode.»
Olga Hepnarova
Hepnarová bereute nur, dass sie nicht mehr Menschen töten konnte. Bild: Aktualne TV

Hepnarová litt unter psychischen Problemen und wurde gemobbt. Auch die amerikanische Serienmörderin Aileen Wuornos, die als Strassenprostituierte lebte und wahrscheinlich sieben Männer umbrachte, hatte eine Biografie voller Gewalt und Missbrauch hinter sich. 

FILE--Convicted serial killer Aileen Wuornos waits to testify in the Volusia County courthouse in Daytona Beach, Fla., in this July 20, 2001, file photo. Wuornos, one of the nation's first known  ...
Wuornos wurde 2002 hingerichtet. Bild: AP

Ansonsten aber morden Frauen viel häufiger in ihrem unmittelbaren Umfeld – gewissermassen pragmatischer. Sie bringen zum Beispiel Männer um, die sie missbraucht oder misshandelt haben, oder die eine Gefahr für sie oder ihre Kinder darstellen. Sie töten Kinder, die sie vielleicht gar nie wollten oder die ihren Träumen im Weg stehen. Und natürlich morden auch Frauen – genau wie Männer – aus Eifersucht, Rache oder Habgier. Sie tun es einfach viel seltener. 

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64 Kommentare
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eysd
04.04.2018 19:37registriert September 2016
Die Rassenfrage wird bei Verstössen gegen das Gesetzt viel häufiger gestellt..die Geschlechtsfrage selten, das finde ich witzig bei diesen Zahlen. (als ob es ohne die Statistik nicht schon klar wäre) Prävention? Soziale lösungen? Medieneinfluss...etc.
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Raffaele Merminod
04.04.2018 20:29registriert Februar 2014
Anektode: Der Hit "I don't like Mondays" von den Boontown Rats wurde vom Fall Brenda Spencer inspiriert.
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Frances Ryder
04.04.2018 21:41registriert Januar 2018
Männer sind gewaltbereiter, im positiven sowie im negativen Sinne. Das ist ja genau gleich so bei den meisten Säugetieren.

Gibt übrigens Studien aus Amerika die vermuten, dass Männer doppelt so oft inhaftiert werden wie Frauen für die gleichen Verbrechen. Finde das noch interessant, dass sich in Europa bei Körperverletzung mit 1:14 verurteilt aber 1:33 inhaftiert dem Anschein nach ähnliches abzeichnet.
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