Sag das doch deinen Freunden!
Wahn kennt viele Gestalten. Eine besonders bizarre Form trat Mitte des 18. Jahrhunderts in Russland erstmals auf: die Skopzen. Diese Sekte trieb die im Christentum ohnehin angelegte Körperfeindlichkeit in ungeahnte Höhen – wohl noch nie hat ein Kollektiv der sexuellen Lust derart kompromisslos den Kampf angesagt.
Diesen religiösen Fundamentalisten genügte es nicht, den Geschlechtsverkehr in toto zu verbieten – sie wollten ihn unmöglich machen, denn der Geist ist zwar willig, aber das Fleisch eben schwach. Deshalb entledigten sich die Skopzen ihrer körperlichen Lust-Werkzeuge mit brachialster Gewalt in einer rituellen Kastration. Dies brachte ihnen auch ihren Namen ein: «Skopez» bedeutet auf Russisch «Kastrat», «Eunuch».
Die Feuertaufe, wie diese rituelle Handlung genannt wurde, sollte den Skopzen das «Tor zur vollkommenen Erlösung» öffnen. Der Eintrittspreis war hoch: Männer mussten sich Hoden und Penis entfernen lassen, bei den Frauen wurden Klitoris und Schamlippen abgeschnitten, die Brustwarzen weggebrannt oder – manchmal mitsamt der ganzen Brust – abgeschnitten.
Bei den Männern gab es zwei Stufen der Entmannung: Das «kleine Siegel» verlangte die Entfernung der Hoden, die als «Schlüssel zur Hölle» galten; für das «grosse Siegel» – auch «Zarensiegel» genannt – musste zusätzlich der Penis weg, der «Schlüssel zum Abgrund». Ein Zapfen aus Zinn diente dann als Verschluss für die Harnröhre, damit nicht unkontrolliert Urin austrat.
Diese Verstümmelungen nahmen die Skopzen mit wenig zimperlichen Methoden vor. Die zu entfernenden sündigen Körperteile – nach Auffassung der Skopzen ein Geschenk des Teufels – wurden mit Schnüren abgebunden und mit einem glühendheissen Messer abgetrennt; der «Patient» rief dabei: «Christ ist erstanden!» Nach dem Eingriff durften sich die Kandidaten fürs Himmelreich, die zuvor «Esel» oder «Ziegen» gerufen wurden, «weisse Tauben» oder «weisse Lämmer» nennen.
Die Rechtfertigung für diese rabiaten Massnahmen entnahmen die Skopzen einigen wenigen Bibelstellen: So klärt Jesus im Matthäusevangelium (Mt 19,12) seine Jünger auf, manche Menschen hätten «sich selbst zur Ehe unfähig gemacht – um des Himmelreichs willen. Wer das erfassen kann, der erfasse es.» Und im gleichen Evangelium heisst es (Mt 5,30): «Und wenn dich deine rechte Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle kommt.»
Erstaunlicherweise schreckten die grausamen Rituale der Skopzen potentielle Beitrittskandidaten nicht ab. In der seltsamen Welt des religiösen Wahns wirken rigide Regeln und peinvolle Praktiken offenbar anziehend. Laut einem zeitgenössischen Historiker zählte die Gemeinschaft bald bis zu 100'000 Mitglieder; Mitte des 19. Jahrhunderts war sie auf schätzungsweise 300'000 Seelen angewachsen.
Der Zar war nicht erfreut über diese Selbstverstümmler unter seinen Untertanen. Der Kreml verfolgte die Sekte und erliess ein Gesetz, das als Strafe für die Selbstkastration die Verbannung nach Sibirien vorsah. Wer einen anderen kastrierte, musste mit sechs Jahren Zwangsarbeit rechnen. Doch die Repression vermochte die Ausbreitung der Skopzen nicht zu stoppen. Einige von ihnen wichen nach Rumänien aus und gründeten dort eine neue Gemeinschaft. Die Verfolgung verlieh der Sekte zudem die Aura des Märtyrertums.
Die Rekrutierung neuer Mitglieder war für die Skopzen naturgemäss wichtiger als für andere Sekten, denn nach dem Kastrationsritual konnten sie selber keine Kinder mehr zeugen. Die Gläubigen, oft gestandene Bauern, Handwerker und Geschäftsleute, fanden neue Mitglieder in allen sozialen Schichten, vor allem aber unter Leibeigenen, Obdachlosen und Kriminellen. Diesen verschafften sie eine neue Existenz – unter der Bedingung, dass sie sich kastrieren liessen.
Nach der Oktoberrevolution übernahmen die Sowjets die Verfolgung der ungeliebten Sekte. 1929 kam es in Leningrad (heute St.Petersburg) zum grössten Prozess gegen Mitglieder der Gemeinschaft; 150 Skopzen wurden nach Sibirien deportiert. Allmählich ging ihre Zahl zurück, doch noch 1970 stöberte ein Ethnologe auf der Halbinsel Krim eine Gruppe von etwa 100 Skopzen auf.
Bereits im 19. Jahrhundert hatte sich eine mildere Variante der Sekte von den Hardcore-Skopzen abgespalten. Die heute noch bestehenden «Geistlichen Skopzen» und die «Neuskopzen» praktizieren keine genitale Verstümmelung mehr, sondern suchen ihr Heil in strenger Askese, die selbstredend auch sexuelle Enthaltsamkeit einschliesst.
Die Skopzen, ursprünglich eine Abspaltung der asketisch-ekstatischen Sekte der Chlysten, gingen zwar aus der russisch-orthodoxen Kirche hervor, doch ihre theologischen Ansichten waren häretisch: In ihren Augen war Jesus der erste Skopze und hatte auch die Kastration gelehrt. Möglicherweise bezogen sie sich auf den Kirchenvater Tertullian, der Jesus und Paulus als spadones – lateinisch für Eunuchen – beschrieb; vermutlich aber nur als Metapher für ihre Keuschheit. Der russische Schriftsteller Michael Schischkin glaubt, die russischen Bauern hätten die Beschneidung Jesu Christi als Kastration missverstanden.
Das Christentum schreibt allerdings die Beschneidung nicht vor und schon gar nicht die Kastration. Es ist jedoch stark vom gnostischen Leib-Seele-Dualismus geprägt, der den Körper – und letztlich die Welt – als Sitz des Bösen sieht, dessen Überwindung erst die geistig-seelische Entfaltung ermöglicht. Diese Körperfeindlichkeit konnte sich bis zur Selbstkastration steigern. Besonders in der Spätantike traten verschiedentlich christliche Sekten auf, die durch die Verstümmelung des Körpers eine Reinigung der Seele erhofften. Schon der Kirchenvater Origenes soll der Legende nach das Matthäusevangelium wörtlich genommen und sich selbst entmannt haben.
Seinem Beispiel folgten die Valesianer, die die Ehe ablehnten und sich selber kastrierten – vielleicht aber auch, wie das «Ketzer-Lexicon» von 1828 behauptet, gleich alle Männer, derer sie habhaft werden konnten. Deswegen hätten Wanderer nichts so sehr gefürchtet, wie sich auf das Gebiet der Valesianer zu verirren. Solches ist, immerhin, von den Skopzen nicht bekannt.
Wenigstens haben sie sich nicht wie die Karnickel vermehrt und sich selbst zerstümmelt, anstatt andere.