Wer in den 1880ern an der Villa in der Rue de la Visitation 21 im westfranzösischen Städtchen Poitiers vorüberging, dem mochte vielleicht auffallen, dass die Läden des einen Fensters im dritten Stock stets geschlossen blieben. Es war das einsame Fenster des Nebengebäudes, das über einen Innenhof zur Strasse schaute.
Und wer noch ein bisschen genauer hinsah, der hätte vielleicht sogar bemerkt, dass die Läden nicht einfach bloss verschlossen waren, sondern dass sie von einer Kette zusammengehalten und mit einem Vorhängeschloss gesichert worden waren.
Hätte dies den Betrachter nicht seltsam anmuten müssen? Wozu sollte man ein Fenster derart verrammeln?
In besagtem Haus wohnte seit einigen Jahren bloss noch die Witwe Louise Monnier, geborene de Marconnay, eine der reichsten und blaublütigsten Familien von Poitiers. Bereits ihr Vater starb in diesen Räumen, und ebenso tat es ihr Mann, Charles-Émile Monnier, der Dekan der Philosophischen Fakultät der ansässigen Universität war. Ihr Sohn, Marcel Monnier, ehemaliger Unterpräfekt des Département Alpes-Maritimes und Doktor der Justiz, lebte im Haus gleich über der Strasse, zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter. Madame Monnier hatte ihn nach einem heftigen Streit hinausgeworfen. Immer wieder hörten die Nachbarn die von Groll und Raserei tobenden Stimmen der beiden. Sie hörten aber auch etwas anderes.
Etwas wie dumpfe Schreie, ein Stöhnen, das irgendwo in den Ritzen des verriegelten Fensters stecken blieb, als hielte es auch dort etwas davon ab, ganz nach aussen zu dringen, an ein achtsames Ohr.
Auch gab es in jenem Hause einmal eine Tochter, Marcel Monniers jüngere Schwester. Blanche Monnier war ihr Name, doch eines Tages war sie nicht mehr da. Es hiess, die junge Frau sei ins Ausland gegangen. Überhaupt sah man kaum mehr einen aus jener Familie.
Dieser Hang zur Zurückgezogenheit, ja dieser stets stärker werdende Wille zu einem Leben in klausurhafter Einsamkeit zeigte sich als Erstes in Monsieur de Marconnay, der, ohne gebrechlich zu sein, die letzten Jahre seines Lebens in seinem Zimmer im dritten Stock zubrachte. Ein Hitzkopf sei er gewesen, meinte Vater Montbron, der die Familie viele Jahre lang kannte. Und er habe seine an Wahnsinn grenzende Exzentrik, sein gesamtes überspanntes Wesen an seine Tochter und seine Enkelin weitergegeben.
Und tatsächlich sollte sich jenes dunkle Erbe auch bei Madame Monnier zeigen, jener herrischen, leicht reizbaren Frau, die sich bald überhaupt nicht mehr in der Stadt zeigte, wo sie zwar von allen respektiert, aber von niemandem gemocht wurde. Und selbst zuhause empfing sie ausser ihrer Schwiegertochter, der Gattin ihres Sohnes Marcel Monnier, überhaupt keine Seele mehr. Auf diese Weise musste sie sich nur einmal in der Woche zurechtmachen, die restlichen Tage konnte sie in ihrem Morgenmantel begehen.
Dann plötzlich schloss sich die Tür auch für die Schwiegertochter.
Allein Vater Montbron liess sie noch ins Haus, er sollte ihrem im Sterben liegenden Mann die letzte Ölung geben. Als jener die Sakramente empfing, sei er noch im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen, wird der Priester viel später aussagen:
Die junge Frau war nicht ins Ausland gegangen. Blanche Monnier hatte das Haus nie verlassen. Sie lebte hinter jenem verschlossenen Fenster. Weil ihre Eltern sie für wahnsinnig hielten.
Seit dem 9. April 1882 war sie nun allein unter der Obhut ihrer Mutter, die nach dem Ableben ihres Mannes das Haupttor des Hauses verriegelte. Die Bediensteten mussten den Seiteneingang benutzen, der durch den kleinen Innenhof führte. Überhaupt waren sie neben Marcel Monnier die Einzigen, die fortan noch Zutritt hatten zu diesem seltsamen Haus, dessen Bewohner sich einsperrten.
Oder eingesperrt wurden.
19 Jahre später, am 23. Mai 1901, nachmittags um halb drei Uhr, klingelt der Hauptkommissar der Polizei von Poitiers an der Rue de la Visitiation 21. Madame Monnier sei unpässlich, richtet ihm die Dienstmagd aus, er solle es bei Marcel Monnier gleich gegenüber versuchen.
Diesen machte der Hauptkommissar nun mit dem Inhalt des anonymen Schreibens bekannt, das bei der Staatsanwaltschaft vor einigen Tagen eingegangen war und ihn mit dem Auftrag, jenen darin gemachten Vorwürfen nachzugehen, hierhergebracht hatte:
«Alles Verleumdung!», versuchte sich Marcel Monnier noch aus der Sache herauszuwinden, doch es half nichts, am Ende gab er nach und begleitete den Inspektor zur Villa seiner Mutter. Auf deren Morgenmantel waren kleine schwarze und weisse Quadrate gestickt, in diesen gehüllt, stand die 75-jährige Dame lange im Türrahmen und versperrte dem Polizisten den Weg ins Innere ihres Hauses. Sie mochte nicht herausgeputzt sein, jener Umstand raubte ihr jedoch kein Stück ihrer aristokratischen Überheblichkeit. Diese schien sich im Gegenteil umso mehr in ihrem geradezu vernichtenden Blick zu sammeln, mit dem sie die bohrende Präsenz des Beamten nun bedachte. «Was bildet der sich bloss ein, sich in meine Familienangelegenheiten zu mischen!», schienen ihre Augen zu schreien, ihr Mund blieb dabei stumm, die Lippen vor Wut leicht bebend, aber fest zugepresst.
Nach einer gewissen Zeit, die sie allein bestimmt hatte, ging sie wortlos zur Seite und liess die beiden Herren passieren.
Sie gingen hinauf in den dritten Stock, wo Marcel Monnier eine Tür öffnete. Im Raum dahinter war es stockfinster, die Fensterläden waren mit einem Kettenschloss versehen, jede Spalte, jeder kleinste Riss am Fenster war abgedichtet worden. Da kam kein Licht, kein Laut und auch keine Luft durch. Kaum eingetreten, musste der Hauptkommissar das Zimmer schon wieder verlassen, so grässlich stank es darin.
Er sah, dass in der Ecke eine verrottete Strohmatratze lag. Und darauf, nackt, ein lebendiges Skelett, das sich in ein vor Dreck ganz steif gewordenes Laken krallte.
Es schrie.
Seine Haut war von einer Kruste bedeckt, einer Kruste aus Kot und Essensresten. Auf dem abgefressenen Holzboden lag schimmliges Brot, ein paar Austernschalen und Hühnerknochen. Auf der linken Seite seines Kopfes waren ein paar einzelne Haarbüschel auszumachen, auf der rechten Seite hing eine über ein Meter lange Filzmatte herunter, unter der sein Gerippe verschwand.
2,7 Kilogramm bringt jene mit Unrat und Ungeziefer angereicherte Filzlocke auf die Waage, als man sie der Trägerin später im Krankenhaus abschneidet.
Das Zimmer, in dem Blanche rund 25 Jahre lang eingesperrt war, mass 18 Quadratmeter. Neben dem Bett stand eine Kommode ohne Schubladen, weiter befanden sich zwei Regale darin, und auf dem Kaminsims stand eine kleine Statue der Jungfrau Maria. Die Tapeten waren fast ganz verschwunden, einst tauchten sie die Wände in ein gräuliches Blau mit dunkelblauen und braunen Quadraten, jetzt waren da bloss noch Rattenlöcher und Bleistift-Gekrakel.
Vieles davon war nicht zu entziffern, aber ein Wortlaut vermochte der Inspektor zu lesen. Da stand:
Die Polizisten packten alles ein, was sie in Blanches Zimmer fanden, selbst die Insekten, die sich bei ihrer Ankunft auf der Matratze befanden. Da waren ausserdem Bücher, Notizhefte, fünf Bleistiftstummel, ein Rosenkranz, eine Zehn-Cent-Münze und ein Puppenkopf.
All das sagt vielleicht mehr, als die Zeugen sagen werden. Zeugen, die so lange geschwiegen hatten, die dieses schmutzige Geheimnis bewahrten, während sich in jenem Zimmer im dritten Stock der Dreck staute, auf dass der Name der Familie rein blieb.
Marcel Monnier und seine Mutter werden wegen Freiheitsberaubung und fortgesetzter Vernachlässigung festgenommen.
Auf dem Polizeirevier bestätigt Marcel Monnier, Doktor Guérineau habe 1875 festgestellt, dass seine Schwester Blanche nicht mehr fähig war, sich um sich selbst zu kümmern. Ihr Zimmer war dreckig, und sie wechselte ihre Kleidung nicht mehr. Als ihr Zustand sich verschlimmerte, schloss Madame Monnier sie ein und liess sie nicht mehr heraus, auch nicht, als die Eingesperrte ihre Freiheit verlangte, was sie mehrmals tat, ohne Gehör zu finden.
Marcel Monnier erzählt, er habe seine Mutter mehrmals darum gebeten, seine geliebte, aber geistesgestörte Schwester in ein Pflegeheim zu geben, doch sie wollte nicht hören. Die Mutter habe geschworen, sich bis zu ihrem Tode selbst um ihre Tochter zu kümmern. Sie habe ihn sogar aus dem Haus geschmissen, schliesslich sei sie dort ihre eigene Herrin, und allein sie würde über derlei Angelegenheiten entscheiden.
Marcel Monnier gibt sich erschreckt über den kümmerlichen Zustand seiner Schwester. Als man ihm die Liste mit den Fundstücken aus ihrem Zimmer vorliest, meint er, ihm sei jene fatale Vernachlässigung nicht aufgefallen. Wenn er zu ihr ins Zimmer ging, um ihr beim Fenster aus der Zeitung vorzulesen, habe er sie nicht angeschaut, aus einem Gefühl von Anstand heraus, weil er doch wusste, dass seine Schwester nackt war. Zudem sehe er sowieso kaum etwas, er sei so kurzsichtig, dass er seine eigenen Freunde auf der Strasse nicht erkennen würde.
Der üble Geruch, der entsteht, wenn ein Mensch in seinen eigenen Fäkalien lebt, der vernichtende Gestank, der die Polizisten und den Untersuchungsrichter Sekunden nach Betreten von Blanches hermetisch abgedichtetem Zimmer sofort in die Flucht geschlagen hatte, schien Marcel Monnier überhaupt nicht zu stören.
Roch er so schlecht wie er sah? Oder war es gar möglich, dass er jenen Gestank umfassendster menschlicher Vernachlässigung mochte?
Auch er schien eine Neigung zum Dreck zu haben, wenn man den Dienstmädchen Glauben schenkt, die bei ihm im Haus gearbeitet hatten. Er habe nicht gewollt, dass sein Bettzeug gewechselt werde, überhaupt sollte man sein Zimmer nicht sauber machen. Besonders nicht seinen Nachttopf, der mitten in seinem Zimmer stand. Erst wenn er randvoll war, durfte er geleert werden. Er habe sogar um einen grösseren gebeten, damit er nicht so oft gereinigt werden musste.
Zwei oder dreimal, erzählt Madame Berger, sei Monsieur Monnier nach dem Mittagessen auf sein Zimmer gegangen, um seinen Darm zu entleeren. Dann habe er den vollen Eimer zu ihr in die Küche gebracht, wo sie gerade beim Essen sass, damit sie ihn ausleeren gehe.
Madame Monnier beharrte darauf, dass ihre Tochter sich freiwillig in ihr Zimmer zurückgezogen habe. 1872, nach der Hochzeit ihres Bruders Marcel, habe sie es nicht mehr verlassen. Ein schlimmes Fieber habe sie niedergestreckt, sie wollte niemanden mehr sehen, ass kaum noch, wurde schrecklich dünn. Sie weigerte sich, ein Nachthemd zu tragen und sei nur glücklich gewesen, wenn sie ganz von einer Decke zugedeckt war.
Als der Polizist ihr den fürchterlich verwahrlosten Zustand beschrieb, in dem ihre Tochter Blanche gefunden worden war, meinte Madame Monnier, sie sei die letzten drei Monate wegen Krankheit nicht bei ihr gewesen. Normalerweise habe sie sie zweimal täglich besucht. Sie habe den Dreck gesehen, in dem ihre Tochter lebte, doch Blanche habe nicht gewollt, dass man ihn wegmache.
Die Dienstmädchen, die mit der Pflege der Tochter betraut waren, zeichneten allerdings ein etwas anderes Bild.
Madame Monnier sei nie im Zimmer ihrer Tochter gewesen. Und sie hätte es nicht zugelassen, dass man Blanche wäscht oder ihr Bettzeug wechselt.
Tatsächlich widersprechen sich die Zeugen fortwährend. Jede in diesen schrecklichen Fall verwickelte Person hatte ihre eigenen, für uns letztlich undurchsichtigen Motive, ihre eigene Sicht- und Darstellungsweise. Manche sagten, Madame Monnier sei geizig gewesen, doch die Bestellungen bei verschiedenen Lebensmittellieferanten belegen, dass sie für ihre Tochter Hühnchen, manchmal auch Austern oder Foie gras – Reste davon wurden im Zimmer gefunden – bestellt hatte, während sie selbst eher bescheiden ass. Dass sie stets dasselbe verdreckte Kleid trug, war vielleicht auch bei ihr mehr Ausdruck von melancholischer Vernachlässigung, jener seltsamen familiären Neigung zu Dreck und Verschmutzung, als von Knauserei.
In einem Punkt aber stimmen die Aussagen sämtlicher Dienstmädchen überein: Madame Monnier weigerte sich hartnäckig, die Bettlaken, die Decke oder Matratze ihrer Tochter wechseln zu lassen, obwohl es von allem einen beträchtlichen Vorrat im Hause gab. Alles, was sie wechseln durften, war das in ein Viertel gefaltete Leintuch, das unter Blanche lag, um ihre Exkremente aufzufangen. Aber erst abends um halb zehn.
Als Blanche Monnier ins Krankenhaus von Poitiers eingeliefert wird, verleiht ihr der Kaplan de Mondion sofort die Sterbenssakramente. Er fürchtet, jenes 21 Kilogramm leichte Gerippe würde bald sterben. Doch das tat es nicht.
Blanche ass viel und gierig, sodass ihre körperliche Kraft bald zurückkehrte.
Am liebsten mochte sie den Blumenstrauss, den man ihr täglich ins Zimmer stellte. Sie küsste erst ihn und dann die Hand, die ihn ihr gebracht hatte. Sie roch freudig daran und konnte jede einzelne Blume darin benennen.
In vielem war sie wie ein kleines Kind. Die Dinge, die man ihr zeigte, erkannte sie zwar, aber sie waren alle lieb und klein. Das liebe kleine Stiftchen, das liebe kleine Röslein. Sie verlangte auch ihre liebe kleine Decke zurück. Sehr oft äusserte sie den Wunsch, zurück in ihre liebe kleine Grotte gehen zu dürfen.
Sie schien ihr Gefängnis in den 25 Jahren wohl in einen märchenhaften Ort verwandelt zu haben. Einen schönen Ort, den sie Hinter-Malampia nannte. Einen Ort, an dem sie gern war – und den sie jetzt, wo sie im Krankenbett lag, vermisste.
Obwohl sie die Sauberkeit mochte und auch die Pflege, die ihr hier zukam. Sie gewöhnte sich allmählich an den Nachttopf und sogar die Kleider und das Eau de Cologne, mit dem man ihren ganzen Körper und ihr Bett besprühte, machten ihr Freude. Zufrieden sah sie sich im Spiegel an, betrachtete die feinen Rüschen an ihrem Morgenmantel und meinte dann, dass sie zu schön seien für dieses Haus. Sie würden viel besser ins liebe feine Haus in Gross-Hinter-Malampia passen.
Sie guckte gern aus dem Fenster, mochte es, wenn die lieben kleinen Schwalben vorbeiflogen. Sie liebte helle Farben und verabscheute die dunklen. Einmal weigerte sie sich, einen Brief anzunehmen, weil dessen Umschlag mit einem schwarzen Rand versehen war. Und auch der Ring, den ihr eine Krankenschwester zum Spass an den Finger steckte, wollte sie sofort wieder loswerden, da ihr der schwarze Stein darin nicht gefiel.
Sie war sanft. Nur, wenn man ihr Fragen stellte, konnte sie ungehalten werden. Sie fluchte dann, lachte oder vergrub ihr Gesicht im Kissen und murmelte Phrasen und Worte ohne erkennbaren Sinn. Auf Dr. Lagrange, den Psychiater in Poitier, wirkte sie besessen. Schwachsinnig, unzurechnungsfähig.
Arzt: Nennen Sie uns Ihren Vor- und Nachnamen.
Blanche (lacht): Gar nichts, gar nichts.
Arzt: Heissen Sie nicht Blanche Monnier?
Blanche: Es gibt nicht nur eine Frau mit diesem Namen.
Arzt: Wo sind Sie geboren?
Blanche (unverständliche Worte, dann): Aber hier kann man nicht bleiben.
Arzt: Haben Sie nicht einen Bruder?
Blanche: Nun denn! Ja.
Arzt: Verraten Sie uns den Namen ihres Bruders?
Blanche lacht, antwortet nicht.
Arzt: Sie wollen uns seinen Namen nicht sagen?
Blanche: Nein.
Arzt: Wo lebten Sie in Poitiers?
Blanche: Und ich will überhaupt nichts sagen. Es steht mir nicht zu, zu reden.
Arzt: Wohnten Sie nicht in der Rue de la Visitiation 21?
Blanche: Ja, aber nicht 21, 14.
Arzt: Gab es da nicht einen schönen Hof?
Blanche: Ja, ja, wenn ich wieder da bin, springe ich einem anderen auf den Rücken.
Arzt: War ihr Zimmer schöner als dieses hier?
Blanche: Als wir im lieben guten Gross-Hinter waren, war es besser als hier, aber wir müssen noch etwas warten, bevor wir dorthin gehen.
Arzt: Erinnern Sie sich an ihre Mutter? Hat sie Sie geliebt und haben Sie sie geliebt?
Blanche wird wütend, will nicht reden.
Arzt: Möchten Sie Ihre Mutter sehen?
Blanche: Nein, es ist besser für sie, wenn sie da bleibt, wo sie ist.
Arzt: Also lieben Sie Ihre Mutter nicht?
Blanche: Doch, doch, aber es ist besser für sie, wenn sie da bleibt, wo sie ist.
Arzt: Kam Ihr Bruder Sie oft besuchen, als Sie in der Rue de la Visitation lebten?
Blanche: Ja, ja.
Arzt: Brachte er Ihnen Süssigkeiten?
Blanche (lacht): Wir sind genug reich im lieben guten Gross-Hinter, um Gebäck zu kaufen.
Arzt: Haben sie Sie gewaschen und gekämmt, als Sie in der Rue de la Visitation gewohnt haben?
Blanche: Ich war es nicht, die so viele Haare hatte; das war jemand anderes. Es gibt andere neben mir, die denselben Namen haben [ ...]
Auszüge aus der Befragung Blanche Monniers im Krankenhaus, 6. August 1901.
Der Krankenhauskaplan de Mondion wehrte sich gegen die Diagnose des Psychiaters. Der angebliche Wahnsinn jener beklagenswerten Kreatur sei bloss als Rechtfertigung herangezogen worden, um sie einsperren zu können. Blanche sei das Opfer, und sie sei sanftmütig. Sie habe sich auch lieber bedeckt gehalten als ausgezogen. Sie habe sehr wohl einen Sinn für Anstand. Ihre Fenster stünden offen und sie habe niemals auch nur das geringste Anzeichen von böswilligem oder gefährlichem Irrsinn gezeigt. Anders als die Verbrecher, die sie für so lange Zeit in einem dunklen Zimmer einkerkerten. Dass sich ihr Körper und ihr Geist davon nicht wieder erholten, dass sie verwirrt und niedergeschlagen sei, sei wohl wenig überraschend.
Der Kaplan war nicht der Einzige, der Blanche für ein im Grunde sanftmütiges Wesen hielt. Marie Deshoulières, die im Jahr 1883 im Hause Monnier gearbeitet hatte, sagte aus, dass Blanche dort zwar bloss in Mieder und Nachthemd herumlief, dass sie aber keineswegs wahnsinnig gewesen sei. Sie hätte im Gegenteil ganz hervorragend zu argumentieren verstanden.
Es war das Jahr 1882, sagt Madame Blanchard, in dem Madame Monnier Blanches Fenster für immer verschloss.
Erst sicherte sie die Fensterläden mit einem Vorhängeschloss, um zu verhindern, dass man ihre Tochter darin nackt sehe. Dann versiegelte sie die Ritzen und Spalten im Fenster, um zu verhindern, dass man ihre Schreie höre.
Auch Briefe konnte Blanche nun keine mehr durch die Lamellen ihrer Fensterläden schieben. Das hatte sie gemäss Virginie Magaul getan. Sie hatte sie an verschiedene Leute adressiert und daraufhin die Köchin gebeten, sie im Innenhof einzusammeln und zur Post zu bringen.
Auch habe Blanche ihre Mutter nicht sehen wollen. Innerhalb einer Woche habe sie sechs Nachttöpfe nach ihr geworfen, die auf der Treppe zerbrachen. Dann habe die Mutter ihr gesagt, sie würde keinen neuen bekommen, sie würde sie in ihrem Dreck sitzen lassen, woraufhin die Tochter antwortete, dass sie längst darin sässe.
Madame Monniers Herz hörte am 7. Juni um halb zehn morgens auf zu schlagen. 15 Tage nach ihrer Verhaftung. Kurz bevor der Arzt in die Krankenstation des Gefängnisses kam, um ihren Tod festzustellen, rief sie noch:
Als die Oberschwester Blanche über das Dahinscheiden ihrer Mutter informierte, rief diese wiederum:
Die einzige Strafe, die Madame Monnier auf Erden noch ereilte, waren die Beschimpfungen der empörten Leute auf ihrer Beerdigung. Ihr Sohn aber wurde wegen krimineller Freiheitsberaubung und Folter zu 15 Monaten Haft verurteilt.
Gegen dieses Urteil legte er Berufung ein. Sein Anwalt Monsieur Barbier wird dem Gericht nun die Geschichte eines Sohnes erzählen, der zu schwach war, sich gegen seine tyrannische Mutter zu erheben. Die Geschichte eines Bruders, der anfangs tatsächlich Versuche unternommen hatte, seine Schwester aus ihrer eigens gewählten Klausur zu locken.
Die Geschichte von Marcel Monnier, der seine Schwester stöhnend auf ihrem eigenen Misthaufen zurückgelassen hatte.
Das Gericht folgte Barbiers Darstellung – und sprach Marcel Monnier am 20. November 1901 frei.
Die Internierung von Mademoiselle Blanche wurde aufgrund ihres geistigen Zustandes für notwendig erachtet. Der völlige Mangel an Aufsicht und Pflege, der unbeschreibliche Zustand des Elends, in dem sich Mademoiselle Blanche dadurch befunden habe, und der ohne das rechtzeitige Eingreifen des Gerichts bald einen tödlichen Ausgang für sie genommen hätte, würde Madame Louise Monnier posthum eine moralische Verantwortung auferlegen, deren Schwere nicht übertrieben werden könne.
Die rein passive Rolle, die ihr Sohn Marcel Monnier darin gespielt habe, seine kalte Gleichgültigkeit, die es ihm erlaubte, nichts Nützliches für seine eingesperrte Schwester zu unternehmen, würde zwar den schärfsten Tadel verdienen, sei aber am Ende kein Vergehen, dass unter die Macht des Strafgesetzes falle.
Den Straftatbestand «unterlassene Hilfestellung» gab es in Frankreich erst ab 1941.
Blanche Monnier starb 1913 im Alter von 64 Jahren in einer psychiatrischen Klinik in Blois, ihr Bruder folgte ihr nur einige Wochen später nach.
Danke trotzdem für diesen Bericht