Welche Kulturen und Religionen haben Sie im Auge, wenn Sie vom nach wie vor hohen Stellenwert der weiblichen Jungfräulichkeit sprechen – und wie äussert sich dieser?
Die Jungfräulichkeit spielt eine wichtige Rolle vor allem in patriarchalen Kulturen, in denen ja der Vater im Mittelpunkt steht. Sie ist deshalb wichtig, weil die Vaterschaft nie beweisbar war. Erst seit 1984, seit dem genetischen Fingerabdruck, lässt sich der Vater nachweisen. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte. Wegen der Unsicherheit der Vaterschaft wurden Monogamie und das mit ihr einhergehende Ideal der Jungfräulichkeit zu einem festen Bestandteil des Regelwerks, das das Leben der Geschlechter kontrollierte. Unter den patriarchalen Kulturen ist die christliche Religion noch einmal einzigartig: Sie schätzt die Jungfräulichkeit höher ein als die Ehe selbst.
Gibt es auch Ausnahmen?
Es gab und gibt durchaus Kulturen, in der die Frau bestimmt und die väterliche Abstammung des Kindes unwichtig ist. Das Kind gehört hier a priori zur Familie der Mutter, was der Jungfräulichkeit weniger Bedeutung verleiht.
Was ist mit Jungfräulichkeit genau gemeint?
Das Hymen wurde erst im 11. Jahrhundert entdeckt. Aber das Ideal der Jungfräulichkeit ist viel älter. Insofern handelt es sich um eine kulturelle Vorstellung. Wie sie verstanden wird, unterscheidet sich von einer Kultur zur anderen. Im einen Fall geht es darum, dass die Frau jungfräulich in die Ehe geht, dass der Ehemann also der erste ist, der sie ‹besitzt›. In einem anderen – vor allem für Christen – ist sie darüber hinaus auch Symbol für Reinheit. In diesem Fall ist mit Reinheit Verzicht auf Sexualität gemeint; es wird eine ‹höhere› oder geistige Art der Reproduktion angestrebt. Das schlägt sich in der Lehre nieder, dass Gott die Jungfrau Maria durch ‹das Wort befruchtet› habe und sein Geist in ihrem Leib zu Fleisch geworden sei.
Also ist in christlich geprägten Gegenden die Vorstellung der reinen, von der Erbsünde unbefleckten Jungfrau und Gottesmutter Maria schuld an dieser Keuschheitsverehrung?
Die Verehrung der Jungfrau Maria ist eher die Folge als der Grund für die christliche Idealisierung der Jungfräulichkeit. Die Keuschheitsverehrung spielte für das Christentum eine zentrale Rolle. Das gilt einerseits theologisch: Ausgedrückt u. a. in der Gestalt der Muttergottes, die einen unsterblichen Gott gebiert. Mit der Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariae, die schon seit dem 8. Jahrhundert immer wieder verkündet und im 19. Jahrhundert zum Dogma erhoben wurde, nimmt die jungfräuliche Gottesmutter einen fast ebenbürtigen Rang mit dem Erlöser ein. Das Dogma besagt, dass nicht nur Christus, sondern auch Maria ohne die ‹Befleckung› der sexuellen Begierde gezeugt wurde.
Was für eine historische Bewandtnis hatte die christliche Idealisierung der Keuschheit?
Für die frühen Christen bot die Askese die Möglichkeit einer Abgrenzung gegen die antike Welt, in der die Fortpflanzung eine Art von Staatspflicht war. Männer und Frauen schuldeten den antiken Gemeinden ihre Reproduktionsfähigkeit. Mit der Verweigerung der Sexualität – der Begriff Jungfrau bezog sich damals sowohl auf Frauen als auch Männer – bot das Christentum eine völlig neue Art von geistiger Gemeinschaft. Für diese Zeit – wir sprechen von den ersten drei Jahrhunderten des Christentums – galt auch das Ideal einer Ununterscheidbarkeit von Männlichkeit und Weiblichkeit. Das änderte sich mit der Etablierung des Christentums als Staatsreligion – ab dann setzte sich zunehmend eine polarisierte Vorstellung der Geschlechtsunterschiede durch.
Kann man eine Art Anfang dieses Jungfräulichkeits-Ideals festmachen oder vielleicht gar einen kulturell übergreifenden Grund dafür finden?
Wenn es überhaupt einen ‹Anfang› gibt, dann ist er in der allmählichen Entwicklung patriarchaler Sozialstrukturen zu suchen. Diese beginnen in manchen Gesellschaften schon mit der Erfindung des Pflugs, der eine Ermächtigung des Menschen über die Natur darstellte – eine Ermächtigung, die wiederum mit Männlichkeit gleichgesetzt wurde, während der weibliche Körper die domestizierte Natur symbolisierte. Alle darauffolgenden Kulturtechniken, wie etwa Schrift, Buchhaltung, Geld (auch der Monotheismus ist in dieser Hinsicht eine Kulturtechnik) haben diese Strukturen, die Männlichkeit mit Geist oder Kultur identifizierte, noch verstärkt.
Und später änderte sich das?
Im 19. Jahrhundert begann der Niedergang dieser Strukturen: Die Zeugungsforschung und später die Genetik wiesen nach, dass die Mutter, nicht weniger als der Vater, den Kindern ihre genetischen Anlagen vererbt. Das gab den ersten Anstoss, in Kategorien von Gleichberechtigung zu denken. Zugleich zwang dies, den Vater nicht mehr als geistige Instanz, sondern biologisch zu denken. Der Mann repräsentierte nicht mehr die Kultur, den zeugenden Geist, sondern ebenso wie die Frau die Materie. Innerhalb von weniger als hundert Jahren kam es so zu einer radikalen Veränderung der Geschlechterordnung und der Mentalitäten. Dieser Umbruch vollzieht sich noch und erklärt einen Teil der Spannungen und Kontroversen über die Frage der Geschlechterordnung.
Wenn die Keuschheit als Ideal gilt, was passiert dann mit denen, die es nicht erfüllen?
In der christlichen Gesellschaft waren die, die sich nicht ans Keuschheitsideal hielten, weniger wert als Geistliche oder Mönche und Nonnen. Das gilt in der Katholischen Kirche bis heute und erklärt, warum der sexuelle Missbrauch von Geistlichen bei vielen Gläubigen so eine tiefe Enttäuschung und Entrüstung hervorrief. Natürlich gibt es auch in anderen Religionsgemeinschaften Missbrauch – aber bei der Katholischen Kirche mit ihrem Zölibat gilt sie als besonders anstössig. Zum Vergleich: Weder im Judentum noch im Islam gibt es eine solche Verherrlichung der Keuschheit. Zwar wird von den Frauen verlangt, unberührt in die Ehe zu gehen, aber die Sexualität selbst wird nicht verteufelt. Der Geschlechtsgenuss, auch der der Frau, hat einen hohen Stellenwert.
Wie wurde und wird Jungfräulichkeit bewiesen?
Wie gesagt, ganz lange wusste man nichts vom Hymen. Da hatte der Beweis – genau wie bei der Vaterschaft – eher mit Vermutungen, Vorannahmen, manchmal auch der Körpersprache zu tun. Aber wenn Sie Schriften wie den ‹Hexenhammer› lesen, dann war eigentlich jede Frau, Jungfrau oder nicht, schon das Einfallstor der Sünde.
Bei der Pflicht zur Keuschheit bis mindestens zur Ehe geht es also immer auch um Herrschaft von Männern über den weiblichen Körper. Kann oder konnte sie von den Frauen auch positiv besetzt werden – selbst gewählt sein oder vielleicht sogar als eine Art Befreiungsakt gelten?
Natürlich haben viele Frauen die Keuschheit als eine Art von Selbstbehauptung praktiziert. Man muss die Berichte mittelalterlicher Klosterfrauen lesen, um zu sehen, wie sie sich das Recht, ins Kloster zu gehen, bei ihren Familien regelrecht erkämpfen mussten. Zwar gab es auch Familien, die ihre Töchter freiwillig ins Kloster gaben, weil sie sich die Mitgift nicht leisten konnten. Doch daneben gab es auch viele Frauen, die diesen Status freiwillig anstrebten. Es war für sie oft die einzige Möglichkeit, sich Bildung und Wissen anzueignen, ein geistig erfülltes Leben zu führen – und es war zugleich eine willkommene Alternative zu Ehe und Bevormundung durch einen Mann.
Gibt es eine Parallele dazu auch in der Moderne?
Die Suffragetten haben in ihrem Kampf für das weibliche Stimmrecht zum ersten Mal den Hungerstreik als politische Waffe eingesetzt. An ihnen wurde auch zum ersten Mal die Zwangsernährung praktiziert. Wenn man weiss, dass die Nahrungsverweigerung immer mit der Sexualverweigerung in Eins gesetzt wurde – viele der mittelalterlichen Frauen erkämpften sich den Zugang zum Kloster, indem sie sich weigerten zu essen – so erkennt man, dass bei den Suffragetten auch die Keuschheit, gedacht als Autonomie vom Mann, mitverhandelt wurde. Die Zwangsernährung wurde als Vergewaltigung eingesetzt und auch so verstanden. Am Ende haben die Suffragetten ihr Ziel erreicht.
Gab oder gibt es auch Kulturen/Religionen, in denen die Jungfräulichkeit als verpönt gilt?
Verpönt ist vielleicht das falsche Wort. Aber es gab und gibt Kulturen, in denen die Jungfräulichkeit keinen hohen Status hat. Das sind vor allem Kulturen, in denen die Mutter im Zentrum der Sozialstruktur steht. Im traditionellen Christentum geniesst nur die Muttergottes hohes Ansehen, die normale Frau und Mutter wird in der Sozialhierarchie niedrig veranschlagt – das zeigen die männlichen Stammbäume, die Gesetze zur Vormundschaft über die Kinder usw. Das christliche Regelwerk bezieht sich vornehmlich auf die Kontrolle des weiblichen Körpers, nicht auf den Respekt vor der Frau. Zum Vergleich: Im Judentum wird der weibliche Körper sakralisiert; er stellt eine Art von Tempel dar und wird eben deshalb kontrolliert. Im Christentum wird die Ehe sakralisiert. Die Frau soll als Individuum in der ehelichen Symbiose verschwinden. Paulus sagt es ganz deutlich: ‹Der Mann ist ein Spiegel Gottes, die Frau ein Spiegel des Mannes.› Das lässt nicht viel Platz für weibliche Eigenheit.
Wirken diese alten Vorstellungen bis heute nach oder hat die Moderne ihren eigenen Teil zur Jungfrau-Verehrung beigetragen?
Die Moderne hat tatsächlich eine neue Art der Jungfrauenverehrung hervorgebracht: Denn die Reproduktionsmedizin hat ermöglicht, dass Frauen, die noch nie mit einem Mann geschlafen haben – dies als lesbische Frauen womöglich auch ablehnen – Kinder bekommen können. Die moderne Wissenschaft hat es einerseits erlaubt, den alten Mythos in die Realität zu überführen – zugleich aber aus diesem Werkzeug der Kontrolle über den Frauenkörper ein Instrument weiblicher Selbstbestimmung gemacht. Heute können natürlich auch schwule Männer Vater werden, ohne mit einer Frau zu schlafen – nur fehlt hier eine vergleichbare mythische Vorgeschichte.
Ist das, was wir heute «Slutshaming» nennen, ein Erbe des Jungfräulichkeits-Ideals?
Slutshaming ist eine von vielen Formen von Diffamation, die sich ganz generell gegen Weiblichkeit richten. Manchmal drücken sich diese im Vorwurf der Nymphomanie aus, in anderen heißt der Vorwurf Frigidität. Das ist austauschbar – und sollte auch als austauschbar verstanden werden.
Werden wir uns je von solchen Reinheits- und Jungfräulichkeits-Vorstellungen trennen können?
Die Moralvorstellungen der christlichen Gesellschaft und alte patriarchale Strukturen sind so tief verankert, dass sie sich nicht so schnell überwinden lassen. Aber es könnte zu einer Neubewertung mancher Kategorien kommen. Die Umwertung der Jungfräulichkeit durch die Reproduktionsmedizin habe ich schon erwähnt. Sie hat die Jungfräulichkeit zu einem Instrument der Autonomie gemacht. Auch die frühchristlichen Vorstellungen einer Ununterscheidbarkeit der Geschlechter im Jenseits – sie gingen einher mit der christlichen Idealisierung der Jungfräulichkeit – wurden mit den neuen biologischen Techniken zu einer im Diesseits gelebten Realität: Erst entstanden multiple Definitionen von Vaterschaft und Mutterschaft: soziale Mutter, genetische Mutter, Eizellspenderin, Tragemutter usw. Beim Vater genauso. Parallel dazu wurden die Grenzen zwischen den sexuellen Identitäten fliessend. Theoretisch ist es heute auch schon möglich, dass ein und dieselbe Person – durch die genetische Weiterentwicklung pluripotenter Stammzellen, die aus Hautpartikeln gewonnen werden – Vater und Mutter zugleich ist. Das wäre dann die weltliche Umsetzung der antiken Muttergottheiten, die auf parthenogenetische Weise neues Leben hervorbrachten.
Und wie wäre eine solche Weiterentwicklung zu bewerten?
Ob das ein Idealzustand ist, mag dahingestellt bleiben. Worauf ich hinaus will, ist die Tatsache, dass alte symbolische Regelwerke bleiben und zugleich eine vollkommen neue Bedeutung erhalten können. So wie der Begriff ‹gay› ursprünglich diffamatorisch gemeint war und dann von Schwulen zur positiven Selbstbezeichnung umfunktioniert wurde, können auch Ideale wie das der Jungfräulichkeit weiterwirken, aber eine konträre Bedeutung annehmen.
Zum Thema Slutshaming:
Es scheint sich für mich um eine ungesunde Idealisierung des weiblichen Geschlechterbildes zu handeln.
Ein äquivalent ist in der heutigen Gesellschaft auch bei jungen Männern zu finden, welche ihre jungfräulichkeit aus Angst vor spott verheimlichen müssen. Wo die Jungfräulichkeit bei Frauen idealisiert wird, ist sie bei Männern ein Indiz dafür dass, es sich um einen loser handelt. Zum glück verlieren beide "ideale" mit den Jahren ihre Wirkung und werden irrelevant. Lasst euch von solchen Stempeln nicht beeinflussen und macht was ihr wollt!