Mein Chef weiss, dass ich Karten liebe. Darum schickt er mir manchmal eine zu. Letzthin war es diese hier:
Der dargestellte Sachverhalt erstaunte mich. So sehr, dass ich zuerst annahm, die Karte sei schlicht nicht korrekt. Inzest zwischen Geschwistern legal in Frankreich, im katholischen Spanien, selbst im orthodoxen Russland? Aber illegal in den liberalen skandinavischen Staaten?
Aber die Karte zeigt den Sachverhalt richtig, soweit ich es beurteilen kann. Sie deckt sich weitgehend mit der folgenden Karte auf Wikipedia, auf der die rechtliche Situation für einvernehmlichen Inzest zwischen Erwachsenen weltweit abgebildet ist:
Diese Karte enthüllt eine enorme Bandbreite der strafrechtlichen Verfolgung von Inzest. In einigen muslimisch dominierten Staaten und Regionen steht sogar die Todesstrafe auf einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen nahen Verwandten. Merkwürdigerweise scheint dies ausgerechnet dort der Fall zu sein, wo die Verwandtenheirat stark verbreitet ist, also die Ehe zwischen Cousins und Cousinen ersten bis zweiten Grades:
Inzestverbote dürfte es in der Menschheitsgeschichte seit sehr langer Zeit gegeben haben. Schon der babylonische Codex Hammurapi aus dem 18. Jahrhundert v. Chr. stellt Inzest unter Strafe. Zugleich gab es jedoch auch Ausnahmen; bekannt ist die Geschwisterehe bei den ägyptischen Pharaonen. Sie wurde selbst noch in hellenistischer Zeit praktiziert – Kleopatra beispielsweise war mit ihren Brüdern Ptolemaios XIII. und Ptolemaios XIV. verheiratet. Auch im Inkareich kam die Geschwisterehe vor.
Massgeblich für die Verhältnisse in Europa waren lange Zeit die Bestimmungen der katholischen Kirche. Sie verbieten die Ehe – und damit die einzige Form legitimer sexueller Beziehungen – zwischen Blutsverwandten ersten Grades ohne Ausnahme. Anders verhielt es sich mit der Eheschliessung unter Cousins, die an sich nicht erlaubt war, für die aber ein kirchlicher Dispens erteilt werden konnte.
Davon machte der Hochadel ausgiebig Gebrauch – die Ehe unter Cousins zweiten und sogar ersten Grades war in diesen Kreisen aus dynastischen Gründen eher die Regel als die Ausnahme. Das Privileg der Ehe unter Verwandten diente dazu, den Besitz und die Macht möglichst in der Familie zu halten – auch zum Preis von häufiger auftretenden Erbkrankheiten wie Hämophilie (Bluterkrankheit).
Mit dem Gedankengut der Aufklärung gerieten solche Privilegien zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Zugleich entzog die Aufklärung moralisch indizierten Delikten wie Blasphemie, Ehebruch, Sodomie (im Sinne einer sexuellen Handlung, die nicht der Fortpflanzung dient) oder eben Inzest die rechtstheoretische Basis. Eine Strafnorm setzt eine Rechtfertigung voraus, die in diesen Fällen nur schwierig zu finden ist – so gibt es bei einvernehmlichem Inzest unter selbstbestimmten, erwachsenen Partnern kein Opfer.
Bereits 1810 schaffte Frankreich daher die Strafbarkeit von blossem Inzest im Code pénal français ab. Mehrere europäische Länder folgten dem französischen Vorbild, so Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Spanien und Portugal. Weltweit gibt es noch eine ganze Reihe von weiteren Staaten, die keine Strafparagrafen für Inzest (mehr) kennen. Andere Staaten hingegen behielten entsprechende Paragrafen in ihren Strafgesetzbüchern bei – darunter vornehmlich angelsächsische und skandinavische Länder sowie Deutschland und die Schweiz.
Allerdings geht aus der Tatsache, dass Inzest strafrechtlich nicht verfolgt wird, keineswegs hervor, dass solche sexuellen Beziehungen in der Gesellschaft akzeptiert wären. Inzest unterliegt einem starken Tabu. Dies zeigte sich exemplarisch in der Schweiz, als der Bundesrat 2010 vorschlug, den Strafbestand Inzest abzuschaffen. Er argumentierte, dass in den wenigen Fällen, in denen es zu einer Verurteilung wegen Inzest komme, jeweils zugleich andere Strafbestände vorlägen – zum Beispiel sexuelle Handlungen mit Kindern.
Die Vernehmlassung erbrachte jedoch eine klare Mehrheit für die Beibehaltung des Paragrafen, so dass der Bundesrat sein Vorhaben 2018 endgültig aufgab. Dazu passt die Tatsache, dass Frankreich den Begriff «Inzest» 2010 und in einem weiteren Schritt 2016 wieder in den Code pénal aufnahm, allerdings im Zusammenhang mit sexuellen Handlungen mit Minderjährigen.
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