Frau Naidoo, Sie sind eine gefeierte Spitzenköchin und gleichzeitig eine an der Harvard University ausgebildete Psychiaterin. Eine eher seltene Kombination.
Uma Naidoo: Ja, und zudem habe ich noch Ernährungswissenschaften studiert.
Wie ist diese Kombination zustande gekommen?
Ich komme aus einer grossen Familie, in der immer sehr gut gekocht wird, und ich liebe gutes Essen. Gleichzeitig habe ich mich immer schon für Wissenschaft interessiert. Deshalb stand für mich schon als Kind fest, dass ich einmal Medizin studieren werde. Als ich dann mein Studium begann, hat es mich sehr überrascht, dass die Ernährung im Lehrplan keine Rolle gespielt hat.
Sie stammen aus einer indischen Familie, die von Südafrika in die USA ausgewandert ist. In der indischen Medizin, etwa in Ayurveda, spielt die Ernährung seit Menschengedenken eine zentrale Rolle. Hat Sie das beeinflusst?
Ich habe mich nicht wegen meiner indischen Herkunft, sondern erst dann für Ernährungsfragen zu interessieren begonnen, nachdem ich mein Medizinstudium abgeschlossen hatte. Ich wollte die Lücken meines Medizinstudiums schliessen. Gleichzeitig war ich schon damals eine begeisterte Köchin und wollte mich auch auf diesem Gebiet weiterentwickeln.
In der westlichen Schulmedizin hat die Ernährungsfrage lange eine untergeordnete Rolle gespielt. Weshalb?
Die westliche Schulmedizin ist defensiv ausgerichtet. Man geht zum Arzt, wenn man ein Problem hat, und dieser verschreibt dann ein Rezept für das Problem. Der Lifestyle – Ernährung, Bewegung etc. – hat bis vor Kurzem nicht im Vordergrund gestanden. Prävention war lange kaum gefragt. Heute wird diese Frage jedoch vermehrt in die medizinische Behandlung integriert.
Es gab auch Ausnahmen. Hier in Zürich beispielsweise lehrte und lebte Dr. Bircher, der Erfinder des gleichnamigen Müslis. In den USA gab es Dr. Kellogg, den Erfinder des gleichnamigen Cereals. Vor allem Kellogg hatte jedoch den Ruf, ein Spinner zu sein. Die Propheten der gesunden Ernährung gelten auch heute noch oft als Sektierer.
Das lässt sich nicht mehr aufrechterhalten. Heute wissen wir so viel über den Einfluss der Nahrung auf unsere Darmflora, dass dieses Thema auch von der Wissenschaft nicht mehr ignoriert werden kann. Ich habe mich deshalb darauf spezialisiert, wie die Ernährung auf unser Gehirn wirkt.
Doch auch heute noch werden bei uns die Bewegung für gesunde Ernährung und medizinische Wissenschaft oft als Gegenspieler empfunden. Das ist beispielsweise in der Diskussion rund um Covid wieder deutlich geworden. Impfgegner waren oft auch Ernährungspropheten. Wie kann man diesen Gegensatz überwinden?
Ich sehe hier keinen Gegensatz. Wir wissen heute, dass die Medizin nicht erst dann eingreifen soll, wenn jemand krank ist. Wir müssen mit der richtigen Ernährung vorbeugen.
Warum tun wir uns immer noch so schwer mit dieser Erkenntnis, die ja so neu nicht ist?
Die Pharmaindustrie ist sicher teilweise schuld daran, zumindest in den Vereinigten Staaten. Sie verdient an ihren Medikamenten, nicht an gesunder Ernährung. Doch andererseits müssen auch die normalen Konsumenten lernen, wie entscheidend diese Fragen sind. Sie können nicht erwarten, dass sie von der klassischen Medizin darüber aufgeklärt werden.
Inbegriff ungesunder Nahrung ist der Zucker. Es gibt gar die These, dass Zucker ähnlich wie Kokain süchtig macht. Teilen Sie diese These?
Zucker ist schädlich, kein Zweifel. Er schädigt das Gehirn, und er kommt in sehr vielen Gerichten vor, wo man ihn gar nicht vermutet, beispielsweise in Ketchup, Salatsaucen oder gar in Pommes frites. Doch süchtig im Sinne von Kokain macht Zucker nicht. Was hingegen zutrifft, ist die Tatsache, dass gerade Convenience Food so zubereitet wird, dass man möglichst viel davon isst. So isst man in der Regel nicht ein Päckchen Chips, man will zwei.
Versuchen Sie, bloss einen einzigen Pommes-Chip zu essen, hiess es einmal in einer legendären Werbung.
Convenience Food wird von Ernährungs-Ingenieuren so konzipiert, dass man immer mehr davon will. Zucker spielt dabei eine wichtige Rolle. Doch auch die Konsumenten tragen eine Mitschuld. Viele wollen nichts von gesunder Ernährung wissen – oder sie scheren sich keinen Deut darum.
Gesunde Ernährung gilt als das Gegenteil von schmackhafter Nahrung. Ja, man sollte sich eigentlich so ernähren, denken viele. Aber es macht leider keinen Spass.
Es ist an der Zeit, dass wir dieses Vorurteil überwinden. Gesunde Nahrung und Genuss sind keine Gegensätze.
Heute wird bekanntlich alles politisiert, auch die Ernährung. Gesunde Nahrung sei etwas, das eine Elite dem Normalbürger aufs Auge drücken wolle, behaupten die Populisten. Das Cordon bleu oder der Burger wird in dieser Lesart zu einem politischen Statement. Zudem seien gesunde Produkte viel zu teuer für den kleinen Mann.
Auch dieses Vorurteil ist falsch. Gesunde Ernährung ist keine Frage des Geldes.
Gerade jetzt im Sommer ist es äusserst bequem, ein Stück Fleisch auf den Grill zu werfen und eine fertige Sauce auf der gerüsteten Salat zu schütten. Ein schmackhaftes vegetarisches oder gar ein veganes Menü erfordert viel mehr Aufwand.
Das lässt sich nicht bestreiten. Deshalb müssen die Menschen auch motiviert sein, gut zu kochen. Glücklicherweise scheint dies bei immer mehr jungen Leuten der Fall zu sein.
Haben Sie selbst sich immer gesund ernährt?
Mein Gott, nein. Während meines Studiums habe ich mich schrecklich ernährt. Als Assistenzärztin hatte ich im Spital so viel Stress, dass ich alles das tat, was ich heute meinen Studenten predige, nicht zu tun. Ich habe daraus gelernt. Nach Abschluss meines Studiums habe ich mich wieder darauf besonnen, mehr auf meine Ernährung zu achten.
Wer 20 Jahre lang nicht mehr geraucht hat, der sei geheilt, heisst es. Wie lange dauert es, bis man die Folgen von schädlicher Ernährung überwunden hat?
Man muss berücksichtigen, dass jeder Mensch eine andere Darmflora hat. Trotzdem kann ich versichern: Die Folgen von gesunder Ernährung sind schon nach einer Woche zu spüren.
Wie merkt man das?
Man denkt klarer oder schläft besser. Man ist weniger bedrückt und weniger ängstlich. Okay, bis sich diese Effekte einstellen, kann es gelegentlich auch ein bisschen länger dauern.
Aber nicht 20 Jahre.
Definitiv nicht 20 Jahre.
Gewicht zu verlieren ist meist die Motivation, weshalb jemand beginnt, sich gesund zu ernähren. Sie jedoch betonen vor allem die Wirkung von gesunder Ernährung auf das Gehirn. Warum?
Das Gehirn ist das wichtigste Organ des menschlichen Körpers. Wer sich gesund ernährt, der stärkt auch sein Gehirn. Das beweisen jüngste Forschungen. So hat beispielsweise ein gross angelegter Versuch gezeigt, dass gesunde Nahrung Depressionen besser bekämpfen kann als Antidepressiva. Wir beginnen zu verstehen, dass Ernährung unser Denken und unsere Stimmung beeinflusst. Daher können wir zwar keine Gewissheit für eine sichere Heilung verbreiten, aber wir können den Menschen dabei helfen, bessere Entscheidungen zu treffen.
Woran denken Sie konkret?
Beispielsweise an fermentierte Nahrung. Sie kann helfen, Entzündungen zu lindern. Umgekehrt sollte man Salami nur in kleinen Mengen essen. Wie die meisten verarbeiteten Fleischwaren enthält Salami Nitrate, und von den Nitraten wissen wir, dass sie Depressionen fördern.
Depressionen und Angstzustände gelten als neue Volkskrankheiten. Ist das die Folge falscher Ernährung oder die Folge der sozialen Umstände?
Von beidem. Dazu kommt, dass für viele Menschen Covid wirklich hart war. Die Pandemie hat zutage gefördert, was bereits eine Krise der psychischen Gesundheit der Menschen war. Die Wirkung von Covid auf Depressionen und Angstzustände ist grösser als offiziell bekannt. Denken Sie nur an die Folgen von Long Covid.
Ich persönlich trinke gerne ein Glas Rotwein, manchmal auch zwei. Wie sehen Sie das?
Es gibt tatsächlich Anzeichen, dass Rotwein unter bestimmten Umständen sogar hilfreich für die Gesundheit sein kann.
Die Franzosen behaupten gar, er verlängere das Leben.
Na ja. Alkohol schädigt das Gehirn, vor allem zu viel davon. Wer Alkohol zu sich nimmt, sollte sich daher mässigen. Es ist zudem ein weit verbreiteter Irrtum, zu glauben, Rotwein fördere einen gesunden Schlaf. Das Gegenteil ist der Fall. Auch Angstzustände sollte man auf keinen Fall mit Alkohol bekämpfen. Aber es spricht nichts dagegen, ein Glas Rotwein zu geniessen. Von Cocktails mit vielen zuckrigen Zutaten würde ich hingegen die Hände lassen.
Wie halten Sie es mit dem Kaffee?
Ich liebe Kaffee. Er enthält Stoffe, die dem Körper guttun, der Leber beispielsweise, aber auch dem Gehirn. Für manche Menschen ist das Koffein ein Problem, deshalb ist auch hier Mässigung angesagt. In den USA wird Kaffee zudem oft mit verschiedenen, meist zuckrigen Zutaten angereichert. Keine gute Idee.
Sie empfehlen eine sogenannte «Regenbogen-Diät». Was verstehen Sie darunter?
Die verschiedenen Farben von Gemüse. Blaubeeren, Karotten, Peperoni, Auberginen etc. gefallen nicht nur dem Auge, sie sind auch sehr gut für den Bauch. Sie wirken entzündungshemmend. Es geht dabei nicht um die verschiedenen Farben, sondern um die verschiedenen Mikroben, die sie in unser Verdauungssystem bringen.
Der Journalist und Ernährungsspezialist Michael Pollan hat eines seiner Bücher mit dem brillanten Satz begonnen: «Esst Food. Nicht zu viel. Vor allem Pflanzen.» Was halten Sie davon?
Ich mag Pollan und diese drei Sätze. Dabei geht es nicht darum, dass man kein Fleisch essen darf. Pollan selbst tut dies mit Vergnügen. Ich persönlich bin zwar Vegetarierin. Doch hauptsächlich geht es darum, bei der Nahrung die richtige Balance zu finden. Es geht darum, was gut ist für den Körper und für das Gehirn.
Ich bin überzeugt, dass ein gesunder Lebensstil mit gesunder Ernährung einen enormen Einfluss auf die psychische Gesundheit hat und vielleicht sogar vor Depressionen "schützt". Aber ein Mensch, der akut an einer Depression leidet braucht Hilfe und mit unter Medikamente um da raus zu kommen. Das wird er nichts schaffen nur mit gesünder Essen.
Der Titel stört mich enorm in dieser Hinsicht.
Das gesunde Ernährung keine Frage des Geld ist entspricht je nach Land nicht den Tatsachen. In der Schweiz ist es noch machbar, aber in der USA ist das Angebot in ärmeren Gegenden oft eingeschränkt und teurer als prozessierte Lebensmittel.