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Wir leben in einer Epoche der Dummheit – das wollen wir offenbar so

Unsere Gesellschaft ist nicht dümmer als frühere. Laut Pinker wäre aber die viele Dummheit, die sich bei uns herumtreibt, nicht nötig.
Unsere Gesellschaft ist nicht dümmer als frühere. Laut Pinker wäre aber die viele Dummheit, die sich bei uns herumtreibt, nicht nötig.bild: shutterstock

Wir leben in einer Epoche der Dummheit – das wollen wir offenbar so

Der US-Psychologe Steven Pinker fordert mehr Rationalität - aber hat uns nicht genau das in die Bredouille geführt?
12.12.2021, 09:41
Christoph Bopp / ch media
Mehr «Wissen»

Der Homo sapiens ist weniger das «wissende Tier» und schon gar nicht ein «weiser Mensch». Das Beiwort soll vielmehr ausdrücken, dass er das sein könnte. Wenn er denn wollte. Oder anders: Die Natur hat ihm etwas mitgegeben, das ihn zu etwas befähigt, wozu die anderen Tiere nicht unbedingt in der Lage sind. Aber er muss davon Gebrauch machen. Und zwar den richtigen.

Kürzlich hat die NZZ eine Buchrezension mit dem Titel versehen: «Ist der Mensch zur Zerstörung der Welt verdammt?» Es ging um das Buch des Autorengespanns Johannes Krause/Thomas Happe: «Hybris. Die Reise der Menschheit zwischen Aufbruch und Scheitern.» Krause ist Archäogenetiker. Was unterscheidet den Homo sapiens von den anderen Menschenarten, besonders von seinen nächsten Vettern, dem Neandertaler und dem Denisovaner?

Die menschliche Destruktivität liegt in seinem Gehirn

Wenn wir die moderne Menschheit an ihren Taten messen wollen, liegt der Fall klar. Als erste Menschenart hat sie es geschafft, sich über die ganze Erde auszubreiten. Aber dass der Sapiens als einzige Art übrig geblieben ist, ist verdächtig. Denn unter anderem hat er, wo er auch hingelangte, die Grosswildfauna ausgerottet. Und was er in den letzten 250 Jahren angerichtet hat, macht uns zunehmend Sorgen.

Was wir mit unserem Gehirn alles anstellen, hat ganz viele Namen. Vernunft, Verstand, Rationalität, Weisheit, Wissen - die Aufzählung ist nicht abschliessend. Das kommt auch im Titel des Buches, von dem hier die Rede sein soll, zum Ausdruck: «Mehr Rationalität. Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes.» Sein Autor, der amerikanische Psychologe Steven Pinker, liegt also nicht auf der Linie, welche der NZZ-Titel andeutete. Mehr, nicht weniger.

Steven Pinker, Autor und Psychologe.
Steven Pinker, Autor und Psychologe. bild: rebecca goldstein

Aber wovon? Pinker hält sich nicht lange mit der Terminologie auf. Und man kann es sich auch einfacher machen als viele Philosophielehrbücher. «Denken» bedeutet die Fähigkeit, sich etwas oder einen Vorgang im Bewusstsein vorzustellen. Natürlich geht es über das blosse Vorstellen hinaus. «Sich etwas denken» bedeutet unter anderem auch, Ursachen und Wirkungen hinzuzufügen. Und wenn wir einen richtigen Gebrauch des Denkens machen, dann kommen wir der «Rationalität» schon sehr nahe.

Der Sklave der Leidenschaften? – Klar, was sonst?

Vom schottischen Philosophen David Hume stammt der Spruch:

«Die Vernunft ist nur der Sklave der Leidenschaften?»

Der Satz wird leicht missverstanden. Haben uns Lehrer und Erzieher nicht eingetrichtert: Gefühle, Emotionen und andere Leidenschaften sind eben gerade das, was die Vernunft kontrollieren soll? Pinker löst das elegant auf. Es liegt in uns (das meint er mit Leidenschaften), dass wir Ziele verfolgen. Und die Verstandeskräfte setzen wir dafür ein.

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Und deshalb kann auch von psychopathischem Egoismus keine Rede sein. Denn man kann leicht verfolgen, wie die Vernunft arbeitet. Sie betrachtet die Ziele. Der zentrale Begriff ist «Vereinbarkeit». (i) Sind sie vereinbar mit dem, was wir von der Welt (und von uns) wissen? Und: (ii) Sind sie vereinbar mit dem, was wir in oder von der Zukunft erwarten? Und schliesslich: (iii) Sind sie mit denen, die andere Menschen verfolgen, vereinbar? Die ersten beiden, sagt Pinker, nennen wir «Weisheit», das dritte «Moral».

Das Wichtigste beim «Denken» ist, dass man dabei einen Schritt zurückgehen und sich fragen kann, ob das eigentlich richtig sei, was man «gedacht» hat. Und dieses kritische Zurückgehen könnte man dann «Vernunft» nennen. Die Vernunft sollte das letzte Wort behalten.

So weit, so gut. Wie muss man das «Mehr» verstehen? Jeder Mensch sollte Lesen, Schreiben und Rechnen können. Und zu diesen Grundfertigkeiten sollte «logisches Denken» hinzukommen. Pinker versteht darunter Logik, kritisches Denken, Wahrscheinlichkeiten, Korrelation und Kausalität. Ein grosser Teil des Buches - und er ist alles andere als langweilig - wird darauf verwendet zu zeigen, was da alles schiefgehen kann. Die gegenwärtigen Diskussionen in der Pandemie liefern uns genug Anschauungsmaterial: Wenn die Hälfte der Coronapatienten Geimpfte sind...

Steven Pinker: Mehr Rationalität. Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes. Fischer Frankfurt a/M 2021. 432 Seiten, Fr. 39.90.
Steven Pinker: Mehr Rationalität. Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes. Fischer Frankfurt a/M 2021. 432 Seiten, Fr. 39.90.bild: zvg

Dazugehören ist uns wichtiger als die Wahrheit oder die Realität

Das Buch wurde natürlich nicht ins Leere geschrieben. Wir brauchen in der Tat «mehr Rationalität». Wir leben in einer Epoche exemplarischer Dummheit. Damit soll nicht gemeint sein, dass wir noch nie dümmer waren. Sondern nur, dass die viele Dummheit, die sich da herumtreibt, nicht nötig wäre. Pinker legt die drei Erklärungen, die sich anbieten, gerade auf die Seite. Es ist nicht (i) der fehlende Logikkurs, dass wir auf Fehlschlüsse hereinfallen; es sind nicht (ii) die sozialen oder anderen Medien; und (iii) es macht keinen Sinn, den Grund für eine Irrationalität in einer anderen zu suchen (im Sinne von: Es tröstet uns oder es tut uns gut, wenn wir uns etwas vormachen).

Der Grund für die Dummheit liegt im «motivated reasoning», im «motivierten Denken». Wir wollen es so. Nicht, dass wir nicht anders könnten. Rationalität ist für alle da und - mindestens bei uns - leicht erhältlich. Aber unser eigentliches Ziel ist nicht die Wahrheit oder die Realität, sondern wir wollen recht behalten. Wir leben nicht in der «postfaktischen Gesellschaft», sondern in der «Myside- Gesellschaft».

Für viele Menschen ist es das Wichtigste, zur «richtigen Seite» zu gehören. «Rational» ist, was meine Peer-Group findet oder was mich dort beliebt macht. Es geht nicht ums «Wissen», sondern um den «Glauben». Und richtig und falsch sind dabei leider heutzutage noch weniger scharf codiert als zu Zeiten der Konfessionskonflikte.

Es gibt zu «mehr Rationalität» keine Alternative. Menschen sind nicht a priori unbelehrbar. Helfen kann, auf Belegen zu bestehen, wenn etwas behauptet wird. Es ist immer noch wahr, dass aus einer Gruppe rational denkender kooperativer Menschen mehr Wahrheit herauskommt. «Jeder von uns hat ein Motiv, unsere Wahrheit zu bevorzugen, aber gemeinsam profitieren wir mehr von der Wahrheit.» Und es reicht schon, wenn wir uns darauf einigen, dass «Moral» mit Unparteilichkeit oder unparteilichem Denken anfängt. (aargauerzeitung.ch)

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49 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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caro90
12.12.2021 13:13registriert November 2015
Spannend. Ich bin sicher, dass es auch daran liegt, dass die Wahrheit sehr lange kaum eine Rolle gespielt hat (für uns) und alles nur eine Meinungsfrage war. Und uns wurde eingetrichtert, dass es nur um unsere Verwirklichung geht. Daneben sollte man noch ein bisschen sozial sein, nur so für die Moral. Nun stehen wir vor Problemen, die sich nicht wegdiskutieren lassen. Pandemie und Klima hören nicht auf die besseren Argumente oder auf Geld. Wir sind der Eigenverantwortung nicht gewachsen, weil wir bisher einfach auswählen konnten, was in unser Weltbild passt und kaum Konsequenzen tragen mussten
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DeDanu
12.12.2021 13:37registriert Januar 2019
Mitdenken und sich einbringen funktioniert nur solange wie auch eine Wirkung erreicht wird. Wir haben so viele Probleme global, bei welchen eine Lösung mit einfachem denken zu lösen wären, aber bloss wenn es ins kapitalistische Profitmodell passt. Aber dort enden dann alle angedachten Lösungen, weil man ja nichts tun darf was dieses System gefährdet. So enden die noch mitdenkenden schlussendlich in der Resignation ihrer Machtlosigkeit etwas ändern zu können und lassen das Mitdenken aus reinem selbstschutz vor endloser frustration. Nicht die Menschen sind dumm, das unantastbare Sytem macht dumm
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HeidiW
12.12.2021 12:30registriert Juni 2018
In der USA glauben ca 40% der Jugendlichen, dass Speck und Hotdog eine Pflanze wäre. Das Problem ist, dass die USA seit Jahrzehnten eine zweigeteilte Gesellschaft pflegt. Die einen erhalten Zugang zu einem der besten Bildungssystem der Welt, der Rest zu einem der schlechtesten. Zudem haben Google, Wikipedia und Co. uns das Denken abgenommen. Die Menschheit hat überall und immer Zugang zu wichtigen und unwichtigen Wissen. Man muss nicht mehr überlegen, wie heisst der Musiker, Politiker oder was auch immer, mann googelt es nach. Man ist bequem geworden, dass fördert keine Rationalität.
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Frohes Länderraten – heute mit Teilstaaten

Liebe Quizzticle-Klasse

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