Der Homo sapiens ist weniger das «wissende Tier» und schon gar nicht ein «weiser Mensch». Das Beiwort soll vielmehr ausdrücken, dass er das sein könnte. Wenn er denn wollte. Oder anders: Die Natur hat ihm etwas mitgegeben, das ihn zu etwas befähigt, wozu die anderen Tiere nicht unbedingt in der Lage sind. Aber er muss davon Gebrauch machen. Und zwar den richtigen.
Kürzlich hat die NZZ eine Buchrezension mit dem Titel versehen: «Ist der Mensch zur Zerstörung der Welt verdammt?» Es ging um das Buch des Autorengespanns Johannes Krause/Thomas Happe: «Hybris. Die Reise der Menschheit zwischen Aufbruch und Scheitern.» Krause ist Archäogenetiker. Was unterscheidet den Homo sapiens von den anderen Menschenarten, besonders von seinen nächsten Vettern, dem Neandertaler und dem Denisovaner?
Wenn wir die moderne Menschheit an ihren Taten messen wollen, liegt der Fall klar. Als erste Menschenart hat sie es geschafft, sich über die ganze Erde auszubreiten. Aber dass der Sapiens als einzige Art übrig geblieben ist, ist verdächtig. Denn unter anderem hat er, wo er auch hingelangte, die Grosswildfauna ausgerottet. Und was er in den letzten 250 Jahren angerichtet hat, macht uns zunehmend Sorgen.
Was wir mit unserem Gehirn alles anstellen, hat ganz viele Namen. Vernunft, Verstand, Rationalität, Weisheit, Wissen - die Aufzählung ist nicht abschliessend. Das kommt auch im Titel des Buches, von dem hier die Rede sein soll, zum Ausdruck: «Mehr Rationalität. Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes.» Sein Autor, der amerikanische Psychologe Steven Pinker, liegt also nicht auf der Linie, welche der NZZ-Titel andeutete. Mehr, nicht weniger.
Aber wovon? Pinker hält sich nicht lange mit der Terminologie auf. Und man kann es sich auch einfacher machen als viele Philosophielehrbücher. «Denken» bedeutet die Fähigkeit, sich etwas oder einen Vorgang im Bewusstsein vorzustellen. Natürlich geht es über das blosse Vorstellen hinaus. «Sich etwas denken» bedeutet unter anderem auch, Ursachen und Wirkungen hinzuzufügen. Und wenn wir einen richtigen Gebrauch des Denkens machen, dann kommen wir der «Rationalität» schon sehr nahe.
Vom schottischen Philosophen David Hume stammt der Spruch:
Der Satz wird leicht missverstanden. Haben uns Lehrer und Erzieher nicht eingetrichtert: Gefühle, Emotionen und andere Leidenschaften sind eben gerade das, was die Vernunft kontrollieren soll? Pinker löst das elegant auf. Es liegt in uns (das meint er mit Leidenschaften), dass wir Ziele verfolgen. Und die Verstandeskräfte setzen wir dafür ein.
Und deshalb kann auch von psychopathischem Egoismus keine Rede sein. Denn man kann leicht verfolgen, wie die Vernunft arbeitet. Sie betrachtet die Ziele. Der zentrale Begriff ist «Vereinbarkeit». (i) Sind sie vereinbar mit dem, was wir von der Welt (und von uns) wissen? Und: (ii) Sind sie vereinbar mit dem, was wir in oder von der Zukunft erwarten? Und schliesslich: (iii) Sind sie mit denen, die andere Menschen verfolgen, vereinbar? Die ersten beiden, sagt Pinker, nennen wir «Weisheit», das dritte «Moral».
Das Wichtigste beim «Denken» ist, dass man dabei einen Schritt zurückgehen und sich fragen kann, ob das eigentlich richtig sei, was man «gedacht» hat. Und dieses kritische Zurückgehen könnte man dann «Vernunft» nennen. Die Vernunft sollte das letzte Wort behalten.
So weit, so gut. Wie muss man das «Mehr» verstehen? Jeder Mensch sollte Lesen, Schreiben und Rechnen können. Und zu diesen Grundfertigkeiten sollte «logisches Denken» hinzukommen. Pinker versteht darunter Logik, kritisches Denken, Wahrscheinlichkeiten, Korrelation und Kausalität. Ein grosser Teil des Buches - und er ist alles andere als langweilig - wird darauf verwendet zu zeigen, was da alles schiefgehen kann. Die gegenwärtigen Diskussionen in der Pandemie liefern uns genug Anschauungsmaterial: Wenn die Hälfte der Coronapatienten Geimpfte sind...
Das Buch wurde natürlich nicht ins Leere geschrieben. Wir brauchen in der Tat «mehr Rationalität». Wir leben in einer Epoche exemplarischer Dummheit. Damit soll nicht gemeint sein, dass wir noch nie dümmer waren. Sondern nur, dass die viele Dummheit, die sich da herumtreibt, nicht nötig wäre. Pinker legt die drei Erklärungen, die sich anbieten, gerade auf die Seite. Es ist nicht (i) der fehlende Logikkurs, dass wir auf Fehlschlüsse hereinfallen; es sind nicht (ii) die sozialen oder anderen Medien; und (iii) es macht keinen Sinn, den Grund für eine Irrationalität in einer anderen zu suchen (im Sinne von: Es tröstet uns oder es tut uns gut, wenn wir uns etwas vormachen).
Der Grund für die Dummheit liegt im «motivated reasoning», im «motivierten Denken». Wir wollen es so. Nicht, dass wir nicht anders könnten. Rationalität ist für alle da und - mindestens bei uns - leicht erhältlich. Aber unser eigentliches Ziel ist nicht die Wahrheit oder die Realität, sondern wir wollen recht behalten. Wir leben nicht in der «postfaktischen Gesellschaft», sondern in der «Myside- Gesellschaft».
Für viele Menschen ist es das Wichtigste, zur «richtigen Seite» zu gehören. «Rational» ist, was meine Peer-Group findet oder was mich dort beliebt macht. Es geht nicht ums «Wissen», sondern um den «Glauben». Und richtig und falsch sind dabei leider heutzutage noch weniger scharf codiert als zu Zeiten der Konfessionskonflikte.
Es gibt zu «mehr Rationalität» keine Alternative. Menschen sind nicht a priori unbelehrbar. Helfen kann, auf Belegen zu bestehen, wenn etwas behauptet wird. Es ist immer noch wahr, dass aus einer Gruppe rational denkender kooperativer Menschen mehr Wahrheit herauskommt. «Jeder von uns hat ein Motiv, unsere Wahrheit zu bevorzugen, aber gemeinsam profitieren wir mehr von der Wahrheit.» Und es reicht schon, wenn wir uns darauf einigen, dass «Moral» mit Unparteilichkeit oder unparteilichem Denken anfängt. (aargauerzeitung.ch)