Autos, die von Software gesteuert werden, Echtzeit-Übersetzungen von Computern, die tatsächlich echt wirken, Dronen, Robotersoldaten – vieles, das noch vor kurzem ins Reich der Science-Fiction gehörte, ist heute Realität. Und dabei stehen wir offenbar erst am Anfang einer sich rasant beschleunigenden Entwicklung: IT-Milliardäre wollen mit privaten Raketen das All erobern und neuen Lebensraum für die Menschen der Zukunft schaffen. Die Geheimnisse des menschlichen Gehirns sollen bald entschlüsselt, unheilbare Krankheiten geheilt, dank Gentech für genügend Nahrung für noch viel mehr Menschen gesorgt und der Tod besiegt werden. Der Toyota-Werbeslogan ist Wirklichkeit geworden: Nichts ist unmöglich.
Die neue Techno-Euphorie ist kein Naturereignis, das unverhofft über die Menschen hereingebrochen ist. Die Ursache liegt in einem Gesetz, das Gordon Moore schon 1965 entdeckt hat. Moore ist ein IT-Pionier und Co-Gründer des Chip-Herstellers Intel. In einem legendären Artikel in der Fachzeitschrift «electronics» wies er folgende Gesetzmässigkeit nach: Die Anzahl der Transistoren, die man auf einem Chip unterbringen kann, verdoppelt sich etwa alle zwei Jahre.
Moore ging ursprünglich davon aus, dass diese Entwicklung noch etwa zehn Jahre so weiter gehen würde. Inzwischen ist ein halbes Jahrhundert daraus geworden, und nach wie vor ist kein Ende abzusehen. Sein Gesetz ist daher längst mehr als eine Fussnote in der Wissenschaftsgeschichte. Es könnte zu einem der bedeutendsten Phänome der menschlichen Geschichte werden. Warum das so ist, erläutert folgende Anekdote:
Ein chinesischer Kaiser wollte den Erfinder des Schachspiels belohnen und fragte ihn, was er denn gerne hätte. Er wolle bloss ein wenig Reis, entgegnete der Erfinder, nämlich ein Korn auf dem ersten Feld, das Doppelte auf dem zweiten, wieder das Doppelte auf dem dritten, usw. Ein paar Reissäcke kann ich locker entbehren, dachte sich der Kaiser und willigte freudig ein. Er hatte keine Ahnung von Mathematik und kannte daher die Tücken der exponentiellen Entwicklung nicht. Auf tiefem Niveau zeigt die Verdoppelung tatsächlich lange kaum Wirkung. Dann aber setzt sie mit umso grösserer Wucht ein. In der zweiten Hälfte des Schachbrettes erreicht die Menge der Reiskörner eine kritische Masse. Jede Verdoppelung kostet nun den Kaiser ein Vermögen. (Für alle, die es genau wissen wollen: Beim Feld 64 sind es exakt 18'446'744'073'709'551'616 Reiskörner.)
Überträgt man diese Schachparabel in die digitale Welt, dann kommt Folgendes heraus: Dank dem Moore’schen Gesetz ist auch die IT in der zweiten Hälfte des Schachbrettes angelangt. Jede Verdoppelung der Anzahl Transistoren auf einem Chip hat nun gewaltige Wirkung. Der so genannte Tipping Point ist erreicht. Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee, zwei Ökonomen am Massachusetts Institute of Technology (MIT), zeigen in ihrem Kultbuch «The Second Machine Age» die Folgen auf: «Die akkumulierten Verdoppelungen infolge des Moore’schen Gesetzes und den Verdoppelungen, die noch folgen werden, wird uns eine Welt bescheren, in der in wenigen Jahren Supercomputer in Spielzeuge eingebaut werden, in der immer billigere Sensoren günstige Lösungen für Probleme ermöglichen, die bisher unlösbar schienen und in der Science-Fiction Realität werden wird.»
Das mag sich zunächst wie der feuchte Traum eines Techno-Freaks anhören. Die Entwicklung des Smartphones deutet an, das man sie ernst nehmen sollte. Das iPhone kam 2007 auf den Markt. Als Mensch wäre es also gerade Mal reif für die Schule geworden. Bereits heute kann man sich die Welt ohne dieses Gadget gar nicht mehr vorstellen. Ob SBB-Billett oder Kino-Ticket, ob Diätberater oder GPS – ohne entsprechende Apps werden wir bald nicht mehr in der Lage sein, unseren Alltag zu bestreiten.
Mehr noch: Das Smartphone bestimmt zunehmend auch unser Verhalten. Mit ihm können Unmengen von Daten gesammelt und in Echtzeit ausgewertet werden. Im Zeitalter von Big Data ist es so mit dem Smartphone möglich geworden, so genannte Netzwerkeffekte minutiös zu erfassen und blitzschnell zu analysieren.
Was dies konkret bedeutet, zeigt die von zwei Amerikanern entwickelte Software «Waze». Es handelt sich dabei um ein interaktives GPS. Waze verbindet über die Smartphones die Autofahrer in einem bestimmten Raum. Damit wird es möglich, alle Verkehrsbewegungen in diesem Raum in Echtzeit zu erfassen, auszuwerten und Umfahrungsmöglichkeiten anzubieten. Das interaktive GPS kann so den Autofahrern nicht nur die beste Route, sondern die beste Route zu einem bestimmten Zeitpunkt vermitteln.
Wenn wir schon beim Auto sind: Dank Big Data ist es möglich, einen Autositz so zu konstruieren, dass er den einzelnen Fahrer identifizieren kann. Das Auto muss damit nicht einmal mehr abgeschlossen werden. Wenn der falsche Lenker Platz genommen hat, springt der Motor ganz einfach nicht an. Selbst wenn der richtige Lenker Platz genommen hat, kann der Motor streiken. Der Lenker muss nämlich in fahrtüchtiger Verfassung sein, weil der Autositz auch aufgrund der Körperhaltung erkennen kann, ob er übermüdet oder betrunken ist.
Netzwerkeffekte beschränken sich nicht auf das Auto. Es ist kein Zufall, dass die SBB sich entschlossen hat, ihre Bahnhöfe mit W-Lan auszurüsten. So wird es künftig möglich sein, die Passagierströme punktgenau zu erfassen und das Angebot entsprechend darauf auszurichten.
Ebenso wird das Auswerten von Netzwerkeffekten bald unser Gesundheitssystem verändern. Grippeepidemien werden künftig nicht mehr von Ärzten und Gesundheitsbehörden frühzeitig erkannt, sondern von Suchalgorithmen. Google kann aufgrund der Suchanfragen in einem bestimmten Raum erkennen, ob sich eine Grippeepidemie anbahnt. Wie bei «Waze» müssen dazu unter diesen Anfragen die vielfältigsten Korrelationen hergestellt und ausgewertet werden.
Nach dem gleichen Prinzip kann etwa das Online-Warenhaus Amazon die Wünsche seiner Kunden sehr präzis erkennen und dementsprechende Kauftipps vermitteln.
Schliesslich hat die Romantik bei der Partnersuche ausgedient. Wer seinen Traumprinzen oder seine Wunschfrau sucht, verlässt sich nicht mehr auf Schmetterlinge im Bauch, sondern auf die Algorithmen und die Datenbank einer Online-Partnervermittlung.
Die meisten Menschen können derzeit das Wort Algorithmus noch nicht einmal fehlerfrei buchstabieren. Ihr Alltag wird aber immer mehr davon bestimmt. Was noch auf uns zukommen wird, erklärt Alex Pentland, Forscher am MIT Media Lab, in seinem Buch «Social Physics». Er schreibt: «In wenigen Jahren werden wir eine Datenfülle über das gesamte menschliche Verhalten haben – auf einer kontinuierlichen Basis. Diese Daten existieren bereits in Smartphone-Netzwerken, Kreditkarten-Datenbanken und sonst wo, sind aber nur technischen Gurus zugänglich. Sie werden jedoch immer häufiger der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung gestellt. Wenn wir einmal eine präzisere Visualisierung der Muster des menschlichen Verhaltens erstellt haben, dann können wir hoffen, die moderne Welt viel besser zu verstehen und zu managen.»
Nicht nur in den Sozialwissenschaften sind dank Big Data Quantensprünge zu erwarten. Auf beiden Seiten des Atlantiks sind gross angelegte Forschungsprogramme zur Analyse des Gehirns lanciert worden. Neben dem Weltall ist das menschliche Gehirn das vielleicht grösste Rätsel, das es zu entziffern gilt.
Das wird sich bald ändern. «Eines Tages könnten die Wissenschaftler in der Lage sein ein ‹Internet des Geistes› zu konstruieren», spekuliert Michio Kaku in seinem Buch «The Future of the Mind». Kaku versteht darunter ein Netzwerk von Gehirnen, in dem «Gedanken und Emotionen elektronisch um die Welt geschickt werden». Sollte dies gelingen, sind der Phantasie keine Grenzen mehr gesetzt. So könnten selbst Träume gefilmt und via Internet rund um die Welt «brain-mailed» werden.
Die Wissenschaftler wollen bereits in zehn Jahren in der Lage sein, den bisher leistungsfähigsten Computer der Welt, das menschliche Gehirn, zu kopieren. Sollte sich diese Hoffnung erfüllen, werden ein paar knifflige philosophische Fragen zu lösen sein. Etwa: Wer sind wir überhaupt, wenn unser Bewusstsein auf einen Computer geladen werden kann? Werden wir unsterblich? Oder werden wir von viel intelligenteren Maschinen abgelöst?
Bis es so weit ist, können wir uns glücklicherweise noch ein paar praktischen Fragen zuwenden, die sich schon in der Gegenwart stellen.
(Gestaltung: Anna Rothenfluh)