Am Fernsehen zeigen sie die Swissair-Flugzeuge, die wie vergessene Spielzeuge am Boden liegen. Es ist der 2. Oktober 2001. «Meine Damen und Herren, liebe Fluggäste, aus finanziellen Gründen ist die Swissair nicht mehr in der Lage, ihre Flüge durchzuführen», tönt es aus der Durchsage im Flughafen Kloten. «Läck, jetzt hat es die tatsächlich gelupft.» Mario Padruzzi* (35) räumt das Geschirr am Stubentisch ab. Er erinnert sich an Maya, seine kurze Affäre vor Regula, deren Vater in Swissair-Aktien angelegt hatte. Mario grinst, als er sich an die Nächte im Kaufleuten erinnert, und die Kater danach. Es kommt ihm vor, als sei es in einem vergangenen Jahrhundert passiert. Ist es ja auch.
Das neue Jahrhundert, das sie auf dem Balkon ihrer Wohnung mit Champagner und Milch für die Kleinen begossen, hat mit grossen Hoffnungen begonnen. Aber dann krachen am 11. September zwei Flugzeuge in die World Trade Towers. Am 27. September stürmt Friedrich Leibacher das Zuger Kantonsparlament und erschiesst 14 Politiker. Die Invasion der USA in Afghanistan steht kurz bevor. Und jetzt ist auch noch die Swissair, die man früher «fliegende Bank» nannte, Pleite gegangen. Die Schuld trägt nicht nur der inkompetente Verwaltungsrat: Auch der fehlende Zugang zum europäischen Luftmarkt hat de Swissair beerdigt. Sie ist das späte Opfer des EWR-Nein.
Doch am 1. Januar 2002 treten die Bilateralen in Kraft. Die Wirtschaft wächst und mit ihr das Selbstvertrauen der Schweizer. Im Sorgenbarometer der Credit Suisse sinkt die Sorge um die Beziehungen zur EU in den folgenden Jahren, dafür schnellt der Nationalstolz nach oben. Man scheint eine Lösung mit der EU gefunden zu haben: Der bilaterale Weg ist nun der «Königsweg». Doch mit dem Beginn der Bilateralen ist die Beziehung der Schweiz zur EU schon am Höhepunkt angelangt. Von nun an geht's abwärts. Es beginnt die schleichende Entfremdung von zwei Partnern, die sich auseinanderleben.
Seit dem Maastrichter Vertrag von 1993 entwickelt sich die EU von einem Handelsclub in eine supranationale Kontinentalmacht. Mit dem Schengen-Dublin-Abkommen verschwinden die Grenzkontrollen. Ab 2002 zahlen die Bürger aus zwölf EU-Länder ihre Einkäufe mit Euro. 2004 wächst die EU um zehn Länder: Osteuropa, Malta und Zypern gehören nun auch dazu. Für Sonderwünsche hat Brüssel jetzt keine Geduld mehr. «No exeptions, only transition», beschreibt ein EU-Beamter, der in Brüssel die Beziehungen zur Schweiz rekapituliert, die neue Politik: Keine Ausnahmen mehr, nur noch Übergangsbestimmungen. Natürlich habe das auch für die Schweiz gegolten.
In der prosperierenden Schweiz andererseits bleibt der Reformdruck, anders als in den 90ern, klein. Die SVP treibt die Konkurrenz mit dem Ausländerthema vor sich her und steigert alle vier Jahre ihren Wähleranteil. Bei den Wahlen 2003 wird sie mit fast 27 Prozent die stärkste politische Kraft. Wenige Wochen später opfert eine rechtsbürgerliche Mehrheit die CVP-Bundesrätin Ruth Metzler, um Christoph Blocher in den Bundesrat zu bringen.
2003 wird Ruedi Noser, der FDP-Shootingstar, in den Nationalrat gewählt. Doch die Strategie seines Reformflügels, mit radikalen Ideen junge Wähler zu gewinnen, schlägt fehl: Die FDP serbelt. Die Macht des konservativen Flügels, welcher keine Stammwähler mehr mit Experimenten verlieren will, wächst. Unter dem kurzen Präsidium der linksfreisinnigen Christine Langenberger kann Ruedi Noser zwar nochmals Strassenzölle in Städten, kostenlose Tagesbetreuung und den EU-Beitritt fordern, doch Langenberger wird 2004 vom rechten Flügel weggeputscht. Als Noser Langenberger sich vor den FDP-Frauen verabschiedet, bricht er in Tränen aus. Die FDP hat sich für den Rechtskurs entschieden. Die politische Mitte verabschiedet sich aus der Europafrage.
Kurz nach dem Grosserfolg der Bilateralen I an der Urne (67 Prozent Ja) im Mai 2001, schickt der Bundesrat seine Unterhändler wieder nach Brüssel. Diesmal stehen auf dem Wunschzettel: Ein Abkommen für verarbeitete landwirtschaftliche Produkte, an dem die Schokoladenfirmen und Nestlé mit seinem neuen Renner Nespresso interessiert sind. Und die Teilnahme an Schengen-Dublin. Schweizer Zöllner können sowieso nur einen winzigen Bruchteil des Grenzverkehrs kontrollieren. Also kriegen sie stattdessen lieber Zugriff auf die europäischen Polizei-Datenbanken.
Erst winkt die EU ab; Schengen-Dublin sei nur für Mitglieder. Dann kommt sie mit einer eigenen Wunschliste: Sie harmonisiert die europaweite Steuerpolitik und die Betrugsbekämpfung und will die Schweiz an Bord haben. Wenn diese Abkommen verhandelt seien, könne man in «good mood» über Dublin-Schengen sprechen. Michael Ambühl lacht, wenn er sich daran erinnert. «Die hätten uns nichts mehr geschenkt danach», erzählt er. Ambühl, heute 65-jähriger Professor für Verhandlungstaktik an der ETH, ist damals der neue Chefunterhändler der Schweiz. Anders als sein Vorgänger Jakob Kellenberger ist er kein Idealist, sondern Mathematiker. Bei den Bilateralen I heimste er Lorbeeren ein, weil er für das Landverkehrsabkommen ein Berechnungsmodell für Transitpauschalen ausbrütete. «We link the dossiers», forderte Ambühl dem EU-Chefunterhändler. «But Michael, that's not how we negotiate», habe der erwidert. «Aber wir blieben hart. Wir hatten aus den Bilateralen I gelernt.» Damals verknüpfte die EU die Dossiers. Ambühl lacht wieder. «Sie waren gar nicht erfreut.» Aber die EU will in ihren Dossiers vorwärtsmachen. Und wer unter Zeitdruck steht, hat in der Diplomatie verloren. «Wir standen mit dem Rücken zur Wand», heisst es in der EU heute, «die Schweizer nutzten das gut aus.»
Auch wenn Michael Ambühl es anders sieht: Die Verhandlungen zu den Bilateralen II, die vom Juni 2002 bis im Mai 2004 dauerten, drehen sich in erster Linie um die Verteidigung einer heiligen Kuh: Dem Bankgeheimnis. Im Steuerabkommen will die EU in ihrem Binnenmarkt den automatischen Informationsaustausch über Bankkunden durchsetzen, um Steuerflucht ihrer Bürger einzudämmen. In der Betrugsbekämpfung sollen Ermittler aus EU-Ländern grosszügig Einsichten in die Bankkonten erhalten. Für die Schweiz damals ein Dealbreaker.
In zähen Verhandlungen ringen Ambühl und seine Unterhändler der unter Zeitdruck stehenden EU grosse Konzessionen ab. Statt Informationen erhalten die EU-Länder anonymisiert die Zinsen von den Schweizer Konten ihrer Bürger. In der Betrugsbekämpfung erreichen die Schweizer, dass fremde Ermittler nur bei konkretem Verdacht Kontoeinsicht erhalten.
Glamourös sind die diplomatischen Zweikämpfe nicht. Die stundenlangen Gespräche finden in gesichtslosen Büros in Bern und Brüssel statt. Ein EDA-Mitarbeiter beschreibt, wie man sich gegenseitig mürbe macht: «Oft gab es nach einer oder zwei Stunden kein Wasser und keinen Kaffee mehr. Aber die EU-Leute fanden in den Pausen dann doch irgendwo einen Kaffee.» Ein EU-Beamter erzählt hingegen, er habe einige Schweizer Diplomaten als «fast überschüssig aggressiv» empfunden. «Sie wurden laut, drohten damit, sich bei Vorgesetzten zu beklagen.» EU-Diplomaten erzählen, die Schweizer seien jeweils mit grossen Delegationen, Kantonsvertreter inklusive, angereist, denn für die Schweiz sind Verhandlungen mit dem mit Abstand wichtigsten Handelspartner höchste Staatsangelegenheit.
Bei der EU hingegen, erzählt der Beamte in Brüssel, wurden nur kleine Teams mit eher subalternen Verhandlern abgestellt, die EU-Spitzen mischten sich kaum je in Verhandlungen ein. Das sei auch ein Vorteil, entgegnet ein Schweizer Diplomat: «Eine grosse Delegation heisst immer: Viele Interessen sind im Spiel, man vertraut dem Verhandler nicht ganz.»
Als die Bilateralen II im Mai 2004 unter Dach und Fach sind, erhalten die Schweizer Diplomaten von Nestlé und Co. Schokolade für das Abkommen für landwirtschaftlich verarbeitete Produkte. Auch der Finanzplatz atmet auf. Das Bankgeheimnis ist – vorerst – gerettet. «Die Schweiz gibt der EU wieder einmal mehr, als sie bekommt», meint SVP-Parteipräsident Ueli Maurer 2004, aber im diplomatischen Korps klopft man sich auf die Schultern. «Das war eine beachtliche Leistung», sagt ein Beteiligter. Die SVP ergreift das Referendum gegen Schengen-Dublin, aber die Schweizer nehmen den Vertrag am 5. Juni 2005 mit 54,6 Prozent an.
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Wenige Wochen nach der Abstimmung zieht die Familie Padruzzi aus Dietlikon in eine geräumigere Attikawohnung an den Rand von Dietlikon. Vor wenigen Tagen ist der Maschinenbauer Mario (39) vom Stellvertreter zum Abteilungsleiter in seiner Firma, die auf die Installation von Abwasseranlagen spezialisiert ist, befördert worden. Die Wirtschaft brummt. Auch der FCZ ist so gut wie schon lange nicht mehr; bald könnte er nach Jahrzehnten wieder mal Schwizermeister werden. Für den ersten August hat sich Mario das erste Mal im Leben ein T-Shirt mit Schweizerkreuz und für die Kleinen Schweizer-Tschäppis gekauft. Man kann sich glücklich schätzen, hier zu leben, denkt Mario. Deshalb wird er auch morgen Ja stimmen.
Denn kaum ist das Referendum zu Dublin/Schengen durch, stimmen die Schweizer über Fortführung der Personenfreizügigkeit und deren Erweiterung auf Rumänien und Bulgarien ab. Regula (37) ist noch skeptisch. «Aber die Grenzen öffnen, ich weiss nicht. Dann kann jeder einfach durch», sagt sie, während in der Abstimmungsarena der «halbe Bundesrat» Samuel Schmid mit dem SVP-Präsident Ueli Maurer streitet. Vor ein paar Wochen ist bei den Nachbarn eingebrochen worden. «Wahrscheinlich waren es Osteuropäer», erzählte die Nachbarin, habe ihr der Polizist gesagt. Aber andererseits ist bisher ja alles gut gegangen mit diesen bilateralen Verträgen.
Seit Anna (9) und Jan (7) in die Schule gehen, hat Regula wieder mit einem kleinen Pensum im Kantonsspital Bülach angefangen. Seit der Personenfreizügigkeit habe der Personalmangel nachgelassen, haben die neuen Kolleginnen erzählt. In ihrem Zwölferteam arbeiten eine Deutsche und eine Österreicherin. Beide sind jung, besser ausgebildet und fleissiger als ihre früheren Kolleginnen aus Ex-Jugoslawien. Und wenn Regula ehrlich ist, sind die beiden auch einen Tick zackiger als sie mit ihren 37 Jahren.
Der Abschluss der Bilateralen II löst – anders als die Bilateralen I – weder in der Schweiz noch in Brüssel Enthusiasmus aus. Auch die EU hat begriffen, dass die Schweiz nicht mehr will als ökonomische Freundschaft. Das Beitrittsgesuch von 1992 setzt in einer Brüsseler Schublade Staub an. EU-intern notieren die zuständigen Beamten den Widerspruch zwischen offiziellem Beitrittsziel und den tatsächlichen Bemühungen, sich möglichst wenig in die EU-Strukturen zu integrieren. Im März 2001, kein Jahr nach der Abstimmung über die Bilateralen, haben die Schweizer die Initiative «Ja zu Europa» und damit sofortige Beitrittsverhandlungen zu 76,8 Prozent verworfen. In der offiziellen Bundesratspolitik ist der EU-Beitritt 2005 das letzte Mal als strategisches Ziel angegeben; 2006 wird er zur Option.
Ein Diplomat erzählt, man habe dem Bundesrat nach Abschluss der Verhandlungen weitere Verhandlungsbereiche für ein mögliches drittes Paket erörtert, sei aber nicht auf Interesse gestossen. Gerade im diplomatischen Korps scheint die Ansicht verbreitet, dass man nach dem Wegfall des Beitrittziels eine Grundsatzdebatte über die Europapolitik hätte führen müssen. Stattdessen habe die Politik den Kopf in den Sand gesteckt. «Jedesmal, wenn ich über Europa rede, verliert meine Partei ein Prozent», zitiert ein Diplomat den damaligen Bundesrat Pascal Couchepin.
«Wir hatten sehr wohl eine Strategie», wehrt sich Micheline Calmy Rey, Aussenministerin von 2003 bis 2011. Sie sitzt in ihrem Büro an der Uni Genf, wo sie Gastprofessorin für Global Studies ist, und setzt ihr ansteckendes Calmy-Rey-Lachen auf. «Wir haben die Bilateralen als etablierte Strategie fortgesetzt», sagt sie, «eine Mehrheit der Bevölkerung war nicht für eine weitere Annäherung bereit.»
2008 klopft jedoch Brüssel wieder an. Weil die Schweiz auf absehbare Zeit hinaus nicht Mitglied werden wird, verlangt sie ein institutionelles Dach, das die bisherigen bilateralen Verträge mit der Schweiz in ihrer Gesamtheit regelt. Dieses Konstrukt mit dem technischen Namen «institutionelles Rahmenabkommen» ist politisches Dynamit. Die EU verlangt, dass die bilateralen Verträge dynamisch werden. Abgesehen von Schengen/Dublin und dem Luftverkehr hat die Schweiz bei den Bilateralen Verträgen bloss das bisher geltende EU-Recht für die jeweiligen Bereiche, aber nicht das Folgerecht übernommen. Es ist dieselbe Forderung, welche die Schweiz 1992 in die souveränitätspolitische Bredouille brachte: Sie darf mitmachen, aber nicht mitbestimmen. Die EU hingegen sieht es anders: Die Schweiz picke Rosinen und mache nur mit, wo sie Lust habe.
Die Schweiz geht auf die EU-Forderung nicht ein. Der Ton aus Brüssel wird mit jedem Jahr schärfer. «In den letzten Jahren habe ich mich taub gestellt», erzählt Calmy Rey. Im März 2011 lässt EU-Kommissionschef José Manuel Barroso ein Treffen platzen, weil es nichts zu besprechen gebe. Bevor der Schweizer Missionschef Jacques de Watteville im Sommer 2012 seinen Posten abtritt, verfasst er einen Bericht, aus dem die «NZZ am Sonntag» zitiert: «Sogar unsere Freunde verstehen uns nicht mehr», schreibt er.
* Die Familiengeschichte der Padruzzis ist ein fiktionales, erzählerisches Element.