London im Februar 2009: Mein Sohn war elf Jahre alt und gerade dabei, seinen eigenen Musikgeschmack zu entwickeln: Die Punk-Alben des Vaters standen damals hoch im Kurs. Wir bestiegen einen Bus und kauften beim Chauffeur die Tickets.
Aber nicht bei irgendeinem Londoner Busfahrer, nein, bei einem Punkrock-Chauffeur: Die Arme bis unten tätowiert und mit einer imposanten, perfekt frisierten Irokesenfrisur auf dem Haupt. (Das weisse Uniformhemd der ÖV-Betriebe war dennoch tadellos gebügelt.) Aus einem Böxchen, das in seinem iPod eingestöpselt war, polterte etwas, das sich verdächtig nach Sham 69 anhörte – in sehr dezenter Lautstärke, weil wohl nicht ganz konform mit den Vorschriften.
Die Irokesen- oder Mohikaner-Frisur gilt zu Recht als eine der klassischen historischen Haupthaar-Frisuren. In ihrer Radikalität sucht sie ihresgleichen, denn jemand, der einen solchen Kopfschmuck wählt, will sagen, dass ihm die eigene Individualität wichtiger ist als die dadurch entstehenden gesellschaftlichen Nachteile. Kaum ein anderer Schnitt sagt deutlicher: «Leg dich nicht mit mir an.» Das gilt auch für Londoner Buschauffeure.
1955 wurde man gemobbt oder gar verfolgt, wenn die Tolle ein klein wenig zu lang war oder man sich mit einer Lederjacke in der Öffentlichkeit zeigte. Heute kann man in dieser Aufmachung zu einem Vorstellungsgespräch gehen und erwarten, dass man ernst genommen wird. Ähnlich verhält es sich mit dem Irokesen-Kamm: Er gilt vielleicht als etwas jugendlich, doch schockieren tut er niemanden mehr.
Und spätestens seit unser unlustiger Lustigmacher Andreas Thiel sich mit rosa Kamm seinem konservativen Publikum stellt, darf man wahrlich von einem Status-Zerfall dieser Haarpracht sprechen.
Doch die Glaubwürdigkeit der Mohikanerfrisur ist seit Längerem im Eimer. Spätestens seitdem sie von Fussballern als (weitere) Möglichkeit entdeckt wurde, optische Fouls zu begehen:
Dabei hat der «Iro» eine edle Geschichte. Sie war die bevorzugte Haarpracht der männlichen Mitglieder des Mohawk-Stamms im nordamerikanischen Nordosten. Sie sind eine der sechs Indian Nations der Irokesen-Konföderation. Im englischen Sprachgebrauch wird die Frisur meistens auch als «Mohawk» bezeichnet.
Die Indianer selbst bezeichnen sie als Skalp-Verschluss (scalp lock), weil das Fehlen des Stirnhaars dem Feind das Skalpieren erschwerte. Hygienische Gründe waren ebenfalls ausschlaggebend: Im stark bewaldeten Stammesgebiet der Mohawks galt es, Zecken vorzubeugen.
Vor allem aber wurde die Frisur von Kriegern getragen. Und dieser Nimbus des Kämpfers, der zugleich auch Underdog ist, haftet dem Irokesen-Kamm immer noch an. Ein klassischer Rebell also, der ultimative Stinkefinger an den Mainstream. Umso bedauerlicher, dass sie nun vom Mainstream überflutet wird.
Schauspieler Wes Studi als Magua in «The Last of the Mohicans» (1992)