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Die deutsche Kanzlerin prägte den Satz des Jahres: «Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden», sagte Angela Merkel am 31. August an ihrer Sommermedienkonferenz in Berlin. Ausgerechnet Merkel, das personifizierte Nullrisiko, die Verwalterin des Status Quo, machte sich stark für eine grosszügige Aufnahme von Flüchtlingen.
In den Flüchtlingslagern in Jordanien, der Türkei und im Libanon ist die Botschaft angekommen. Die Menschen machten sich erst recht auf den Weg ins «gelobte Land» Germany, ausgerüstet mit Smartphones und organisiert durch Facebook-Gruppen. So funktioniert Flucht im 21. Jahrhundert. Anfangs wurden sie in Deutschland mit offenen Armen empfangen. Schreckliche Bilder wie jenes des ertrunkenen Aylan erzeugten eine Welle des Mitgefühls.
Nun aber machen sich Ernüchterung und Zweifel breit. «Es kommen viel mehr Menschen, als die Kanzlerin sich bei ihrer Entscheidung zur Aufnahme von Flüchtlingen gedacht haben mag», schrieb Heribert Prantl, Innenpolitikchef der «Süddeutschen Zeitung». Am Montag zog die deutsche Regierung die Notbremse und führte Kontrollen an der Grenze zu Österreich ein. Gleichentags bekräftige Merkel ihr Bekenntnis: «Ich bleibe dabei: Wir schaffen das.»
Es hörte sich nicht mehr an wie eine Mutrede, sondern wie Durchhalteparolen. Denn immer mehr Menschen in Deutschland und anderen Ländern fragen sich: Schaffen wir das wirklich?
Europa sieht sich mit der grössten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert. Man könnte fast von einem «perfekten Sturm» sprechen. Aus Süden drängen Afrikaner über das Mittelmeer Richtung Europa, aus dem Osten kommen Syrer, Iraker und Afghanen, die vor Krieg und Terror geflüchtet sind. Hauptmotiv ist in beiden Fällen das Fehlen von Perspektiven.
Wenn «Weltwoche»-Chef und SVP-Nationalratskandidat Roger Köppel die Syrer als «Wirtschaftsflüchtlinge» bezeichnet, erntet er Entrüstung. Ganz falsch aber liegt er nicht. Vor dem Bürgerkrieg sind die Syrer in die Nachbarländer geflüchtet. Nach Europa wollen sie, weil sie auf absehbare Zeit keine Chance auf eine Rückkehr sehen und ihren Kindern ein besseres Leben bieten wollen. Warum sonst sind unter den Flüchtlingen so viele Familien?
Wie soll Europa mit dem Exodus umgehen? Optimistisch gibt sich das für kühle Analysen bekannte britische Magazin «The Economist». Es rühmt Deutschlands «Willkommenskultur» als «moralisch, wirtschaftlich und politisch richtig», sie setze «ein Beispiel für die Welt». In den Online-Kommentaren tönt es weniger euphorisch: «Der Artikel ist Ausdruck von politischer Korrektheit und ignoriert die wahren Probleme. Merkel hat den grössten Fehler ihrer Laufbahn gemacht», heisst es etwa.
Über Letzteres lässt sich streiten, an der ersten Feststellung aber ist etwas dran. (Selbst-)Kritische Reflexion ist angebracht. «Für das Drama der Flüchtlinge gibt es nur eine Lösung: Europa muss sie reinlassen», habe ich im April geschrieben. Rein technisch stimmt der Befund noch immer: Wenn der Libanon mit seinen vier Millionen Einwohnern mehr als einer Million Syrern Zuflucht geboten hat, können die 80 Millionen Deutschen in einem ungleich grösseren Land ebenso viele absorbieren.
Trotzdem stellt sich die Frage, ob sie dazu wirklich in der Lage sind, vor allem mental. «Natürlich kann die jährliche Einwanderung von 500'000 Menschen technisch bewältigt werden. Aber wollen wir sie auch bewältigen?» argumentiert der umstrittene Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».
Die Deutschen haben einen Hang zur Übertreibung. Er hat grossartige Dinge hervorgebracht, aber auch die dunkelsten Episoden der Menschheitsgeschichte. Merkels «Willkommenskultur» ist Ausdruck dieser Übertreibung. Nun dämmert es den Deutschen, dass sie sich damit etwas eingebrockt haben. Wo soll man die Menschen unterbringen? Wie will man sie versorgen und integrieren? Wie sollen sie Arbeit finden, ohne dass es zu Verteilkämpfen kommt?
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm das zerstörte (West-)Deutschland rund 14 Millionen Vertriebene aus dem Osten auf. Damals aber hatten die meisten Menschen nichts und die wenigsten etwas zu verlieren. Im heutigen Wohlfahrtsstaat ist das anders, Migranten werden als unerwünschte Konkurrenz betrachtet. Und als Herausforderung für die deutsche «Leitkultur».
«Es reicht nicht, wenn die Kanzlerin ihre Entscheidung mit ungewohnter Verve verteidigt; sie braucht ihre Minister, sie braucht die Gesellschaft dieses Landes, sie muss Verwaltung, Industrie und Wirtschaft gewinnen; dazu die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände – die Menschen. Sie braucht das ganz Land», schreibt Heribert Prantl in der «Süddeutschen Zeitung».
So ähnlich tönt das Pfeifen im Walde.
Dennoch: Wenn es einem Land zuzutrauen ist, diese Herausforderung zu meistern, dann Deutschland. Es hat in den letzten Jahrzehnten mit Wiederaufbau und Wiedervereinigung zwei Gewaltsleistungen vollbracht, an denen viele Staaten gescheitert wären.
Wer aber verhindern will, dass der Exodus kein Ende hat, muss sich Alternativen überlegen. Dazu gilt es, bei den Herkunftsregionen anzusetzen. Im Fall von Afrika ist das leichter gesagt als getan, wie die Schweiz in Sachen Eritrea zur Genüge erfahren hat. Und in Syrien ist kein Ende des Bürgerkriegs in Sicht, zumal sich nun Russland verstärkt auf Seiten des Massenmörders Baschar Assad engagieren will.
Es ist billig, dem Westen ein «Versagen angesichts der Tragödie in Syrien» vorzuwerfen, wie es in einem Kommentar der NZZ heisst. Es gab und gibt Gründe, sich nicht in diesen Hexenkessel zu begeben. Für die in die Nachbarländer geflüchteten Syrer aber kann Europa mehr tun. Man sollte ihnen ermöglichen, vor Ort ein Aufnahmegesuch zu stellen, damit sie sich gar nicht erst auf die lange und gefährliche Reise der Hoffnung machen und sich den Schleppern ausliefern müssen.
Gleichzeitig muss ihnen vor Ort eine Perspektive geboten werden. Es genügt eben nicht, diese oft gut ausgebildeten Menschen einfach durchzufüttern. Die Nachbarn von Syrien brauchen Hilfe, «damit sie Bildung und Arbeitsplätze anbieten können, nicht nur Lager in der Wüste», argumentiert der «Economist». Das wird kosten, sehr viel sogar, doch wenn wir nicht wollen, dass die Syrer zu uns kommen, müssen wir den Preis bezahlen. Man sollte dabei auch die reichen Golfmonarchien zur Kasse bitten, die beschämend wenig für die Syrer tun.
Und die Schweiz? Sie hat schon mehr als 200 Millionen Franken für die humanitäre Hilfe in der Region zur Verfügung gestellt. Aussenminister Didier Burkhalter stellte am Glückskette-Sammeltag weitere 50 bis 100 Millionen in Aussicht. Das ist, mit Verlaub, immer noch beschämend wenig.
Die Schweiz ist von den Wanderungsbewegungen der letzten Wochen weitgehend unberührt geblieben. Selbst nach der Einführung der Grenzkontrollen in Deutschland und Österreich haben sich die apokalyptischen Warnungen der SVP nicht erfüllt. Das muss nicht so bleiben. Die Flüchtlingsströme sind unberechenbar. Neben Deutschland ist Schweden das beliebteste Zielland für Migranten aus Syrien. Das reiche Norwegen direkt daneben scheint sie nicht zu interessieren. Die dortige Regierung will sogar freiwillig 8000 Menschen aus Syrien aufnehmen.
Die zentraler gelegene Schweiz muss sich auf einen grösseren Ansturm einrichten. Und sie muss hoffen, dass der Zerfall der Europäischen Union, dieser Wunschtraum vieler SVP-Anhänger, nicht Realität wird. In diesem Fall dürften wir unter die Räder kommen. Wenn Italien und Österreich die Flüchtlinge gezielt zu uns lenken, können wir wenig ausrichten, selbst wenn wir die Armee an die Grenze stellen. Deutschland könnte uns mit der an Griechenland erprobten «Erlkönig-Methode» (Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt) zwingen, ihm einen Teil der Last abzunehmen.
Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, die amtsälteste Migrationsministerin aller Schengen-Länder, hat am Montag auf undiplomatisch deutliche Art ihre Enttäuschung darüber zum Ausdruck gebracht, dass sich ihre EU-Kollegen nicht auf einen Verteilschlüssel für Flüchtlinge einigen konnten. Sommaruga, Realpolitikerin durch und durch, weiss genau, dass die Schweiz von einer solchen Lösung profitieren dürfte. Ein Kleinstaat, der sich den Luxus leistet, weder Freunde noch Verbündete zu haben, ist auf ein funktionierendes Regelwerk angewiesen.
Schaffen wir das? Kann Europa die Kluft zwischen West und Ost überwinden und die Flüchtlingskrise gemeinsam bewältigen? Es wäre wünschenswert. Einfache Lösungen gibt es nicht. Eine blauäugige «Willkommenskultur» hilft so wenig wie ein ängstlicher Abwehrreflex.
Im besten Fall gehen Deutschland und Europa aus der Krise gestärkt hervor. Im schlechteren fällt der Kontinent zurück in dumpfen Nationalismus, bei dem alle für sich schauen und jeder gegen jeden agiert. So etwas kann sich nicht einmal der ärgste EU-Gegner wünschen.