International
Schweiz

Flüchtlingskrise in Europa: Schaffen wir das wirklich?

Mutter Courage oder Schraube locker? Angela Merkel mit Flüchtlingen in Berlin.Bild: FABRIZIO BENSCH/REUTERS

Exodus und kein Ende – schaffen wir das wirklich? Politisch unkorrekte Gedanken zur Flüchtlingskrise

Angela Merkels «Willkommenskultur» wird zur epochalen Herausforderung für Europa. Und führt zur bangen Frage: Wie bewältigen wir sie?
18.09.2015, 09:0426.05.2020, 20:51
Mehr «International»

Die deutsche Kanzlerin prägte den Satz des Jahres: «Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden», sagte Angela Merkel am 31. August an ihrer Sommermedienkonferenz in Berlin. Ausgerechnet Merkel, das personifizierte Nullrisiko, die Verwalterin des Status Quo, machte sich stark für eine grosszügige Aufnahme von Flüchtlingen.

In den Flüchtlingslagern in Jordanien, der Türkei und im Libanon ist die Botschaft angekommen. Die Menschen machten sich erst recht auf den Weg ins «gelobte Land» Germany, ausgerüstet mit Smartphones und organisiert durch Facebook-Gruppen. So funktioniert Flucht im 21. Jahrhundert. Anfangs wurden sie in Deutschland mit offenen Armen empfangen. Schreckliche Bilder wie jenes des ertrunkenen Aylan erzeugten eine Welle des Mitgefühls.

Flüchtlinge kämpfen gegen Grenzen

1 / 15
Flüchtlinge kämpfen gegen Grenzen
15. September, Istanbul, Esenler Busbahnhof: Die Regierung hält Tickets an die Grenze zurück, Flüchtlinge protestieren.
quelle: getty images europe / ahmet sik
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Nun aber machen sich Ernüchterung und Zweifel breit. «Es kommen viel mehr Menschen, als die Kanzlerin sich bei ihrer Entscheidung zur Aufnahme von Flüchtlingen gedacht haben mag», schrieb Heribert Prantl, Innenpolitikchef der «Süddeutschen Zeitung». Am Montag zog die deutsche Regierung die Notbremse und führte Kontrollen an der Grenze zu Österreich ein. Gleichentags bekräftige Merkel ihr Bekenntnis: «Ich bleibe dabei: Wir schaffen das.»

Es hörte sich nicht mehr an wie eine Mutrede, sondern wie Durchhalteparolen. Denn immer mehr Menschen in Deutschland und anderen Ländern fragen sich: Schaffen wir das wirklich?

Europa sieht sich mit der grössten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert. Man könnte fast von einem «perfekten Sturm» sprechen. Aus Süden drängen Afrikaner über das Mittelmeer Richtung Europa, aus dem Osten kommen Syrer, Iraker und Afghanen, die vor Krieg und Terror geflüchtet sind. Hauptmotiv ist in beiden Fällen das Fehlen von Perspektiven.

Wenn «Weltwoche»-Chef und SVP-Nationalratskandidat Roger Köppel die Syrer als «Wirtschaftsflüchtlinge» bezeichnet, erntet er Entrüstung. Ganz falsch aber liegt er nicht. Vor dem Bürgerkrieg sind die Syrer in die Nachbarländer geflüchtet. Nach Europa wollen sie, weil sie auf absehbare Zeit keine Chance auf eine Rückkehr sehen und ihren Kindern ein besseres Leben bieten wollen. Warum sonst sind unter den Flüchtlingen so viele Familien?

«Die Deutschen haben einen Hang zur Übertreibung. Er hat grossartige Dinge hervorgebracht, aber auch die dunkelsten Episoden der Geschichte.»

Wie soll Europa mit dem Exodus umgehen? Optimistisch gibt sich das für kühle Analysen bekannte britische Magazin «The Economist». Es rühmt Deutschlands «Willkommenskultur» als «moralisch, wirtschaftlich und politisch richtig», sie setze «ein Beispiel für die Welt». In den Online-Kommentaren tönt es weniger euphorisch: «Der Artikel ist Ausdruck von politischer Korrektheit und ignoriert die wahren Probleme. Merkel hat den grössten Fehler ihrer Laufbahn gemacht», heisst es etwa.

Über Letzteres lässt sich streiten, an der ersten Feststellung aber ist etwas dran. (Selbst-)Kritische Reflexion ist angebracht. «Für das Drama der Flüchtlinge gibt es nur eine Lösung: Europa muss sie reinlassen», habe ich im April geschrieben. Rein technisch stimmt der Befund noch immer: Wenn der Libanon mit seinen vier Millionen Einwohnern mehr als einer Million Syrern Zuflucht geboten hat, können die 80 Millionen Deutschen in einem ungleich grösseren Land ebenso viele absorbieren.

epa04927143 Aerial view of a provisory tent village for refugees in Eisenhuettenstadt, Germany, 12 September 2015. The tent village was established because the official refugee reception center in Eis ...
Zeltlager für Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt in Brandenburg.Bild: EPA/DPA

Trotzdem stellt sich die Frage, ob sie dazu wirklich in der Lage sind, vor allem mental. «Natürlich kann die jährliche Einwanderung von 500'000 Menschen technisch bewältigt werden. Aber wollen wir sie auch bewältigen?» argumentiert der umstrittene Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».

Die Deutschen haben einen Hang zur Übertreibung. Er hat grossartige Dinge hervorgebracht, aber auch die dunkelsten Episoden der Menschheitsgeschichte. Merkels «Willkommenskultur» ist Ausdruck dieser Übertreibung. Nun dämmert es den Deutschen, dass sie sich damit etwas eingebrockt haben. Wo soll man die Menschen unterbringen? Wie will man sie versorgen und integrieren? Wie sollen sie Arbeit finden, ohne dass es zu Verteilkämpfen kommt?

«Die Schweiz muss sich auf einen grösseren Ansturm einrichten. Und sie muss hoffen, dass der Zerfall der Europäischen Union, dieser Wunschtraum vieler SVP-Anhänger, nicht Realität wird.»

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm das zerstörte (West-)Deutschland rund 14 Millionen Vertriebene aus dem Osten auf. Damals aber hatten die meisten Menschen nichts und die wenigsten etwas zu verlieren. Im heutigen Wohlfahrtsstaat ist das anders, Migranten werden als unerwünschte Konkurrenz betrachtet. Und als Herausforderung für die deutsche «Leitkultur».

«Es reicht nicht, wenn die Kanzlerin ihre Entscheidung mit ungewohnter Verve verteidigt; sie braucht ihre Minister, sie braucht die Gesellschaft dieses Landes, sie muss Verwaltung, Industrie und Wirtschaft gewinnen; dazu die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände – die Menschen. Sie braucht das ganz Land», schreibt Heribert Prantl in der «Süddeutschen Zeitung».

So ähnlich tönt das Pfeifen im Walde.

Dennoch: Wenn es einem Land zuzutrauen ist, diese Herausforderung zu meistern, dann Deutschland. Es hat in den letzten Jahrzehnten mit Wiederaufbau und Wiedervereinigung zwei Gewaltsleistungen vollbracht, an denen viele Staaten gescheitert wären.

Wer aber verhindern will, dass der Exodus kein Ende hat, muss sich Alternativen überlegen. Dazu gilt es, bei den Herkunftsregionen anzusetzen. Im Fall von Afrika ist das leichter gesagt als getan, wie die Schweiz in Sachen Eritrea zur Genüge erfahren hat. Und in Syrien ist kein Ende des Bürgerkriegs in Sicht, zumal sich nun Russland verstärkt auf Seiten des Massenmörders Baschar Assad engagieren will.

Es ist billig, dem Westen ein «Versagen angesichts der Tragödie in Syrien» vorzuwerfen, wie es in einem Kommentar der NZZ heisst. Es gab und gibt Gründe, sich nicht in diesen Hexenkessel zu begeben. Für die in die Nachbarländer geflüchteten Syrer aber kann Europa mehr tun. Man sollte ihnen ermöglichen, vor Ort ein Aufnahmegesuch zu stellen, damit sie sich gar nicht erst auf die lange und gefährliche Reise der Hoffnung machen und sich den Schleppern ausliefern müssen.

Flüchtlinge treffen mit dem Zug in München ein

1 / 24
Auf dem Weg in ein besseres Leben: Hunderte Flüchtlinge treffen mit dem Zug in München ein
Hunderte Migranten erreichen den Hauptbahnhof in München. Die Flüchtlinge kamen aus Budapest mit dem Zug, die meisten von ihnen stammen aus Syrien, Irak und Afghanistan.
quelle: epa/dpa / sven hoppe
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Gleichzeitig muss ihnen vor Ort eine Perspektive geboten werden. Es genügt eben nicht, diese oft gut ausgebildeten Menschen einfach durchzufüttern. Die Nachbarn von Syrien brauchen Hilfe, «damit sie Bildung und Arbeitsplätze anbieten können, nicht nur Lager in der Wüste», argumentiert der «Economist». Das wird kosten, sehr viel sogar, doch wenn wir nicht wollen, dass die Syrer zu uns kommen, müssen wir den Preis bezahlen. Man sollte dabei auch die reichen Golfmonarchien zur Kasse bitten, die beschämend wenig für die Syrer tun.

Und die Schweiz? Sie hat schon mehr als 200 Millionen Franken für die humanitäre Hilfe in der Region zur Verfügung gestellt. Aussenminister Didier Burkhalter stellte am Glückskette-Sammeltag weitere 50 bis 100 Millionen in Aussicht. Das ist, mit Verlaub, immer noch beschämend wenig.

Die Schweiz ist von den Wanderungsbewegungen der letzten Wochen weitgehend unberührt geblieben. Selbst nach der Einführung der Grenzkontrollen in Deutschland und Österreich haben sich die apokalyptischen Warnungen der SVP nicht erfüllt. Das muss nicht so bleiben. Die Flüchtlingsströme sind unberechenbar. Neben Deutschland ist Schweden das beliebteste Zielland für Migranten aus Syrien. Das reiche Norwegen direkt daneben scheint sie nicht zu interessieren. Die dortige Regierung will sogar freiwillig 8000 Menschen aus Syrien aufnehmen.

Asylanten werden von Polizei und Medien zum Polizeiposten begleitet. 5 Asylanten, 2 Kinder ein Elternpaar und ein junger Mann, kommen mit dem Railjet Zug von Wien her auf dem Bahnhof in Buchs SG an un ...
Asylbewerber im Bahnhof Buchs (SG). Noch hält sich der Ansturm in Grenzen.Bild: KEYSTONE

Die zentraler gelegene Schweiz muss sich auf einen grösseren Ansturm einrichten. Und sie muss hoffen, dass der Zerfall der Europäischen Union, dieser Wunschtraum vieler SVP-Anhänger, nicht Realität wird. In diesem Fall dürften wir unter die Räder kommen. Wenn Italien und Österreich die Flüchtlinge gezielt zu uns lenken, können wir wenig ausrichten, selbst wenn wir die Armee an die Grenze stellen. Deutschland könnte uns mit der an Griechenland erprobten «Erlkönig-Methode» (Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt) zwingen, ihm einen Teil der Last abzunehmen.

«Im besten Fall gehen Deutschland und Europa aus der Krise gestärkt hervor. Im schlechteren fällt der Kontinent zurück in dumpfen Nationalismus.»

Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, die amtsälteste Migrationsministerin aller Schengen-Länder, hat am Montag auf undiplomatisch deutliche Art ihre Enttäuschung darüber zum Ausdruck gebracht, dass sich ihre EU-Kollegen nicht auf einen Verteilschlüssel für Flüchtlinge einigen konnten. Sommaruga, Realpolitikerin durch und durch, weiss genau, dass die Schweiz von einer solchen Lösung profitieren dürfte. Ein Kleinstaat, der sich den Luxus leistet, weder Freunde noch Verbündete zu haben, ist auf ein funktionierendes Regelwerk angewiesen.

Migration
AbonnierenAbonnieren

Schaffen wir das? Kann Europa die Kluft zwischen West und Ost überwinden und die Flüchtlingskrise gemeinsam bewältigen? Es wäre wünschenswert. Einfache Lösungen gibt es nicht. Eine blauäugige «Willkommenskultur» hilft so wenig wie ein ängstlicher Abwehrreflex.

Im besten Fall gehen Deutschland und Europa aus der Krise gestärkt hervor. Im schlechteren fällt der Kontinent zurück in dumpfen Nationalismus, bei dem alle für sich schauen und jeder gegen jeden agiert. So etwas kann sich nicht einmal der ärgste EU-Gegner wünschen.

Das Leben im jordanischen Flüchtlingscamp

1 / 30
Das Leben im jordanischen Flüchtlingscamp
Das Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien. Hier leben derzeit rund 80'000 syrische Flüchtlinge.
quelle: x80003 / â© pool new / reuters
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Alles schaut nach Osteuropa – derweil geht das Flüchtlingsdrama in Sizilien seinen gewohnt grausamen Gang

1 / 40
NICHT MEHR VERWENDEN!!!
Während sich dieser Tage alle Augen auf die Flüchtlinge richten, die über die Balkanroute nach Europa kommen, ist Sizilien nach wie vor Anlaufpunkt für Migranten aus Afrika, die ...
quelle: polaris / / polaris, 05211205
Auf Facebook teilenAuf X teilen

Hol dir jetzt die beste News-App der Schweiz!

  • watson: 4,5 von 5 Sternchen im App-Store ☺
  • Tages-Anzeiger: 3,5 von 5 Sternchen
  • Blick: 3 von 5 Sternchen
  • 20 Minuten: 3 von 5 Sternchen

Du willst nur das Beste? Voilà:

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
54 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
emc2
18.09.2015 09:14registriert September 2015
Watson wäre ohne Blunschi nur halb so lesenswert! Danke für die stets interessanten und gut durchdachte Texte.
607
Melden
Zum Kommentar
avatar
poga
18.09.2015 09:22registriert November 2014
Sehr gut geschrieben. Ein Lichtblick auf diesem Portal. Vor allem aber sehr ausgewogen.
6311
Melden
Zum Kommentar
avatar
nick_the_greek
18.09.2015 10:58registriert Januar 2014
Finde den Artikel überhaupt nicht politisch unkorrekt, wie im Titel behauptet. Er geht einfach ganz nüchtern auf die realen Konsequenzen der Flüchtlingsströme ein ohne moralisch zu färben. Willkommene Abwechlung zum Watsonschen Konsensus.
522
Melden
Zum Kommentar
54
4-Tage-Woche: Erstes grosses Pilotprojekt in der Schweiz
Immer mehr Länder und Unternehmen testen die 4-Tage-Woche. Nun soll bald auch in der Schweiz ein gross angelegtes Pilotprojekt beginnen. Das Wichtigste zu den bisherigen Erkenntnissen, zur 4-Tage-Woche weltweit und in der Schweiz.

Vier Tage in der Woche arbeiten, drei Tage pausieren – und trotzdem 100 Prozent des Lohnes erhalten: Für viele klingt das zu gut, um wahr zu sein. Und trotzdem ist die 4-Tage-Woche seit einiger Zeit auf dem Vormarsch.

Zur Story