Der Kosovare hatte es eilig. Mit knapp 160 km/h bretterte er im Mai 2016 über die A1 zwischen Lenzburg und dem Baregg-Tunnel im Aargau. Auf der Überholspur zog er an Autos vorbei – und einer Video-Patrouille der Kantonspolizei. Die Patrouille im unscheinbaren Zivilfahrzeug nahm die Verfolgung auf und filmte den Temposünder über mehrere Kilometer. Sie massen eine Geschwindigkeit von 159 km/h im 120er-Bereich. Nach Abzug der Sicherheitsmarge 29 km/h zu viel.
Bei der Ausfahrt Baden-Dättwil war dann Schluss: Die zwei Polizisten zogen den Westschweizer aus dem Verkehr. Er wurde später von der Staatsanwaltschaft per Strafbefehl verurteilt. Der Mann akzeptierte die Busse. Zu erdrückend war der Beweis auf Video.
Die Geschichte ist damit nicht zu Ende. Hinter dem Kosovaren fuhr nämlich dessen Bruder, ebenfalls auf der Überholspur. Der 47-jährige Westschweizer hatte es genauso eilig und fuhr viel zu schnell. Er merkte dann nicht, dass die Video-Patrouille ebenfalls auf die Überholspur wechselte, sich zwischen ihn und dem Bruder einreihte und diesen verfolgte. Das Dreier-Combo «Bruder-Polizei-Bruder» fuhr über mehrere Kilometer mit übersetzter Geschwindigkeit über die Autobahn – bis die Polizei der Tempobolzerei in Baden-Dättwil ein Ende machte.
Im Gegensatz zum Bruder akzeptierte der Fahrer im hinteren Auto den Strafbefehl nicht. Der Fall wurde deshalb vor dem Bezirksgericht Lenzburg verhandelt. Dort sagte der Temposünder verärgert: «Es gibt keinen Beweis, dass ich gleich schnell gefahren bin wie mein Bruder», übersetzte die Dolmetscherin. Auf Französisch fuhr der 48-jährige Waadtländer fort:
Einer der beiden beteiligten Polizisten sagte jedoch im Gerichtssaal, dass das Fahrzeug hinter der Patrouille längere Zeit gleich schnell fuhr wie das gemessene Fahrzeug vor der Patrouille. Also knapp 160 km/h. Video-Aufnahmen von Kameras entlang der Autobahn zeigten zudem, dass die drei Fahrzeuge hintereinander im gleichen Abstand fuhren.
«Man sieht auf den Aufnahmen der Autobahn-Kameras die Kontrollschilder nicht», kritisierte der Angeschuldigte. «Das könnten andere Autos sein.» Er wisse, dass er nicht so schnell gefahren sei. «Ich lüge nie. Ich sage immer die Wahrheit.» Gerichtspräsident Daniel Aeschbach fragte darauf: «War das jetzt die Wahrheit oder eine Lüge?» Die Wahrheit, sagte der Waadtländer leicht verärgert – und verglich den Polizeieinsatz mit den Zuständen in seiner früheren Heimat in Ex-Jugoslawien. «Das alles erinnert mich an die Diktatur von damals. Die Polizei konnte auch machen und sagen, was sie wollte.»
Gerichtspräsident Daniel Aeschbach bestätigte schliesslich den Strafbefehl der Staatsanwaltschaft und verurteilte den Waadtländer zu einer Busse von 400 Franken. Zudem muss er 1750 Franken Verfahrenskosten zahlen – alles ein Klacks für den Beschuldigten, einem Geschäftsführer mit rund 120 Angestellten und einem Jahreslohn von über 300'000 Franken. Schnell stellte sich an der Verhandlung heraus: Es geht ihm nicht ums Geld. Ihm droht ein Ausweisentzug, auch wegen eines früheren Verkehrsdelikts. Und es geht dem Mann ums Prinzip. «Es gibt keine Beweise», wiederholte er sich vor Gericht. «Ich werde bis vor Bundesgericht gehen.»
Zum Schluss der Verhandlung zeigte sich Gerichtspräsident Aeschbach befremdet über den Vergleich zwischen der Schweizer Polizei und der Diktatur im ehemaligen Jugoslawien. «Sie sind seit 20 Jahren in der Schweiz und sollten unser Land kennen», sagte Aeschbach – und schob eine Bemerkung nach, über die selbst die versierte Übersetzerin stolperte: «Zur besseren Integration sollten Sie unsere Kultur studieren. Ich schlage dazu Trudi Gerster vor, unsere Märchenkönigin.»
Das liess der Waadtländer nicht auf sich sitzen. Sein Zeigefinger war auf Daniel Aeschbach gerichtet, als er sagte: «Von Ihnen lasse ich mir nicht sagen, ob ich integriert bin oder nicht.» Dann verliess er wütend den Saal.
(aargauerzeitung.ch)