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Online-Debatten über den Nahostkonflikt (und Russland, anderes Thema) laufen nach einem Skript ab. Darin taucht weder ganz am Anfang noch ganz am Schluss, aber todsicher irgendwo dazwischen das A-Wort auf:
Ist Israel-Kritik gleichzusetzen mit Antisemitismus? Wenn nicht, was ist der Unterschied? In diesen Fragen liegt beträchtliche Brisanz: Gemäss Kommentaren wie dem obigen werden Israel-Kritiker trotz legitimer Argumente mit der Antisemitismus-Keule mundtot gemacht. Auf der anderen Seite warnen jüdische Organisationen wie die Anti-Defamation-League unablässig vor dem «Neuen Antisemitismus», der sich im Mantel der Israel-Kritik tarne, statt mit den alten Stereotypen wie Brunnenvergiftung und Ritualmord zu operieren.
Wer hat Recht? Das Problem beginnt bereits bei der Definition der beiden Begriffe. Antisemitismus beschreibt rassistisch motivierte Vorurteile gegenüber Juden. Schlaumeier werfen an dieser Stelle gerne ein, dass Juden, die Araber hassen, auch Antisemiten seien, weil die Araber ebenfalls zu den Semiten gehören. Der Einwand ist weder hilfreich noch korrekt, denn die Begriffsgeschichte des Antisemitismus handelt ausschliesslich vom Judenhass. Was nicht bedeutet, dass es in Israel (und anderswo, zum Beispiel im Iran) keinen antiarabischen Rassismus gibt.
Antisemitismus scheint zudem bis zu einem erschreckenden Grad Ansichtssache: Als die Jungsozialisten im Abstimmungskampf zur Spekulations-Initiative eine Karikatur mit antisemitischen Stereotypen auf Facebook verbreiteten, zeigten sich viele Leser über diese Einordnung empört. Selbst die Entschuldigung der JUSO, die unmissverständlich von «antisemitischen Codes und Stereotypen» sprach, sowie die Einschätzung mehrerer Experten vermochte sie nicht zu überzeugen. Dies ist umso erstaunlicher, als es sich in besagter Karikatur nicht um neuen, sondern klassischen Antisemitismus handelt.
Auch beim Begriff «Israel-Kritik» ist Vorsicht geboten. Zunächst müsste klar sein, gegen wen oder was sich die Kritik richtet: An die aktuelle Regierung Israels? Eine frühere Regierung? Eine bestimmte Person? Eine bestimmte Partei? Die Ultra-Orthodoxen? Die Siedler? Die Justiz? Die Armee? Die Gesellschaft? Wer diese Frage nicht beantworten kann oder will, sondern Israel in seiner Gesamtheit verurteilt, der ist vielleicht wirklich ein Antisemit.
Ist die Kritik qualifiziert – zum Beispiel wenn sie sich gegen einen Beschluss der israelischen Regierung richtet, die Siedlungen in der Westbank zu erweitern – bietet sich der sogenannte 3D-Test an, um sie auf versteckten Antisemitismus zu überprüfen:
Gemäss Natan Sharansky, dem Vorsitzenden der Jewish Agency und Erfinder des 3D-Tests, ist Kritik an Israel antisemitisch, wenn sie eines oder mehrere der drei Ds erfüllt.
Beispiele für die Dämonisierung Israels im Sinne Sharanskys finden sich schnell. Man nehme die untenstehende Zeichnung des bekannten brasilianischen Karikaturisten Carlos Latuff über den Ship-to-Gaza-Zwischenfall 2010. Darin wird Israel als Krake dargestellt und der Davidstern in der Fahne durch ein Hakenkreuz ersetzt.
Auch Delegitimierung ist einfach zu erkennen. Sie äussert sich in Ansichten, wonach die Juden nach so langer Zeit im Exil keinen Anspruch mehr auf ihre historische Heimat erheben können. Oder dass die UNO 1947 nicht berechtigt gewesen sei, Palästina zwischen Juden und Arabern aufzuteilen. Oder dass der Talmud die Rückkehr der Juden nach Israel verbiete, solange der Messias auf sich warten lässt. In die Kategorie Delegitimierung fällt folgender, zwei Jahre alter Facebook-Post einer britischen Abgeordneten, der kürzlich ihren Rauswurf aus der Arbeiterpartei zur Folge hatte.
Dämonisierung und Delegitimierung sind praktikable Kategorien und Sharansky legt plausibel dar, warum diese möglicherweise auf eine antisemitische Motivation schliessen lassen. Die relevanteste, weil am häufigsten zitierte Kategorie Doppelmoral hingegen ist in mehrfacher Hinsicht problematisch.
Zunächst ist ein Doppelmoral-Test in der Praxis schwierig, denn niemand führt Buch, welches Land wie oft kritisiert wird. Gegenüber Medien (auch watson) wird derselbe Vorwurf erhoben, sie würden immer Israel kritisieren, aber nie die Hamas oder die Palästinenserbehörde – obwohl entsprechende Archiv-Suchen mit sehr überschaubarem Aufwand das Gegenteil beweisen.
Sollte Israel öfter kritisiert werden als die Palästinenser, dann gibt es dafür eine plausiblere Erklärung als Antisemitismus. Dabei spielen zwei zentrale Vorstellungen eine Rolle:
Beide Aussagen werden innerhalb und ausserhalb Israels (auch in der Schweiz) wie ein Mantra wiederholt. Was ist absehbarer, als dass Medien und Menschenrechtsorganisationen das Verhalten der israelischen Regierung und Armee immer wieder daran messen? Dabei ist unerheblich, dass es neben Israel durchaus andere Demokratien im Nahen Osten gibt (Tunesien, Türkei, Libanon) und dass Moral und Krieg beziehungsweise Moral und Besatzung grundsätzlich schlecht zusammenpassen.
Videos von israelischen Soldaten, die ein fragwürdiges Verhalten an den Tag legen, bekommen eine zusätzliche Dimension, wenn sie mit dem Anspruch der «moralischsten Armee der Welt» abgeglichen werden. Mit dem Demokratie-Verständnis des Premierministers der «einzigen Demokratie im Nahen Osten» scheint es nicht weit her, wenn er am Wahltag vor seinen arabischen Mitbürgern warnt, die «in Scharen» an die Urne gehen. Und keine Demokratie kann auf Dauer Besatzungsregime sein.
Wer mit Superlativen operiert, provoziert Kritiker, diese mit Gegenbeispielen immer und immer wieder zu attackieren. Eine kleine Analogie aus der Schweiz – freilich ohne den ernsten Hintergrund des Nahostkonflikts: Wie oft wurde Ueli Maurer sein berühmtes Diktum der «besten Armee der Welt» um die Ohren gehauen? Im Rausch seiner Wahl in den Bundesrat lieferte er diese Steilvorlage, die Armeekritiker und politische Gegner immer wieder mit Hochgenuss aufnahmen. Wäre er im VBS geblieben, er müsste es sich bis heute anhören.
Welche hehren Ansprüche formulieren Hamas und die Palästinenserbehörde an sich selbst? Keine, die einem beim Bekanntwerden neuer Verfehlungen in den Sinn kämen. Korruption in Ramallah und Unterdrückung in Gaza erstaunen niemanden (mehr), weder hüben noch drüben. Das macht die Verfehlungen nicht weniger schlimm. Aber es «fehlt» die perzipierte Diskrepanz zwischen Selbstbild und Realität wie im Fall Israels. Dies so hinzunehmen, mag desillusioniert und vielleicht sogar zynisch anmuten. Aber es hat nichts mit Antisemitismus zu tun.
Fazit: Es gibt Antisemitismus und es gibt Israel-Kritik. Manche Israel-Kritik überschreitet die Grenze zum Antisemitismus. Aber nicht jede. Wer sich an der Debatte um den Nahostkonflikt konstruktiv beteiligen will, tut gut daran, die beiden klar auseinander zu halten. Für Nicht-Antisemiten sollte das ohne weiteres machbar sein. Eine Hilfestellung bietet der 3D-Test von Natan Sharansky, bei dessen Kategorie Doppelmoral allerdings Vorsicht geboten ist. Böse Zungen behaupten, das zweite D sei in Wirklichkeit ein W für Whataboutism.
Der Frage, warum einige Antisemitismus sehen, wo ihn andere nicht sehen, geht auch der preisgekrönte Dokumentarfilm «Defamation» des israelischen Filmemachers Yoav Shamir nach: