Zum dritten Mal kehrt der eloquente Chatbot nach den Sommerferien mit in die Schulzimmer zurück. Seit seinem Erscheinen im Herbst 2022 hat ChatGPT die Bildungsdebatte aufgemischt. Zunächst dominierte vor allem die Frage: Wie lässt sich verhindern, dass Lernende ihn zum Schummeln nutzen? «Braucht es Verbote?», lautete die Frage. Rückblickend betrachtet, kommentierte das Magazin «MIT Technology Review», seien solche Forderungen «eine dumme Reaktion auf eine sehr intelligente Software» gewesen.
Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) sah denn auch von Beginn an davon ab, Künstliche Intelligenz im Unterricht zu verbieten. Beat A. Schwendimann, Leiter der LCH-Arbeitsgruppe Digitale Transformation in der Schule, sagt:
In einem Positionspapier zu KI und Schule schreibt der Lehrerverband, dass Schülerinnen und Schüler schon immer gespickt, abgeschrieben oder später Wikipedia als Hilfe genutzt hätten. Künstliche Intelligenz (KI) habe dies nun auf ein neues Level gehoben, gerade weil von ChatGPT generierte Texte zu entlarven, so schwierig ist, wie Nebel jagen. Verlässliche Detektoren, die bei computergenerierten Texten ausschlagen, gibt es nämlich nicht.
Deshalb sollten Lehrpersonen auf ihr Bauchgefühl und ihre Erfahrung vertrauen: Wer seine Schülerinnen und Schüler kenne, merke, wenn der Schreibstil plötzlich verdächtig eloquent wird. Zudem soll der Fokus der Bewertung vom Endprodukt zum Lernprozess verlagert werden: regelmässige Zwischenschritte, Diskussionen, Feedback. So lässt sich erkennen, wer noch selbst denkt.
Dass sich der Lehrerverband schon so tief mit der Thematik auseinandergesetzt hat, zeigt, wie sehr KI bereits in die Bildung eingegriffen hat – ob man das nun gut findet oder nicht. Im Alltag vieler Jugendlicher hat sich die Technologie jedenfalls längst etabliert. Laut der aktuellen JAMES-Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) nutzen rund 80 Prozent der 16- bis 19-Jährigen KI-Chatbots regelmässig. Mit Abstand am häufigsten greifen sie auf ChatGPT von OpenAI zurück, gefolgt von My AI von Snapchat. Bei den 14- bis 15-Jährigen sind es 65 Prozent, bei den 12- und 13-Jährigen immerhin 53 Prozent. Und das sind Zahlen aus dem Jahr 2024 – heute dürfte der Anteil noch höher liegen.
Inzwischen sind zahlreiche Studien erschienen, in denen Forschende weltweit die Auswirkungen generativer KI auf das Lernen analysieren. Für Aufsehen sorgte jüngst eine Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT). Sie zeigte: Wer sich beim Denken zu stark auf Maschinen verlässt, verliert die Fähigkeit, eigenständig zu argumentieren und kreativ zu formulieren.
Das Forschungsteam um Natalya Kos’myna, Expertin für Mensch-Maschine-Interaktion, liess 54 Studierende einen Aufsatz verfassen. Die eine Gruppe nutzte ChatGPT, aber keine anderen Quellen. Eine zweite durfte frei im Internet recherchieren, aber keine KI einsetzen. Die dritte Gruppe verzichtete ganz auf Tools. Das Resultat: Die Gruppe ohne KI schnitt am besten ab – mit originelleren Texten, an die sie sich besser erinnern konnten, und vor allem zeigte sie die höchste Gehirnaktivität.
Hennric Jokeit, Neuropsychologe an der Schweizerischen Epilepsie-Klinik in Zürich, kennt die Studie – und relativiert. «Wenn Sie von Hand schreiben, nutzen Sie ebenfalls mehr Hirnaktivität. Trotzdem kämen Sie kaum auf die Idee, auf die Tastatur zu verzichten.» Mehr Hirnaktivität könne zwar intensiveres Training bedeuten, impliziere aber nicht, dass die Funktionen bei denen verkümmern, die weniger Anstrengung aufbringen.
Doch er hat keinen Zweifel daran, dass die Nutzung von KI das Denken verändern werde. Das habe auch das Erlernen der Schrift einst getan, sagt Jokeit. Er erklärt das so:
Ähnliches gelte für das Taschenrechnen, das vor rund 50 Jahren dazugekommen sei, oder das Navigieren mit GPS vor 15 Jahren. «Jede Modifikation substituiert bestimmte Fähigkeiten, um neue zu implementieren.»
Natürlich würden die, die sich auf die KI verliessen, ohne Zusammenhänge zu verstehen, nicht weit kommen, sagt er. Schliesslich müsse, wer von der KI eine schlaue Antwort will, zuerst einmal eine intelligente Frage stellen können. «Ich glaube aber, dass die Nutzung von KI in den meisten Fällen zu kreativeren Denkprozessen führen wird.» Neue Technologien unkritisch, nolens volens in den Bildungskontext einsickern zu lassen, wie es gegenwärtig passiere, werde uns eine Menge Lehrgeld kosten. Aber: «Korrektive werden kommen», ist Jokeit überzeugt.
Dass der Taschenrechner dazu geführt hat, dass kaum mehr jemand im Kopf multiplizieren kann, hält er also für verschmerzbar. «Unsere Eltern kannten noch das grosse Einmaleins auswendig. Dennoch ist das mathematische Niveau insgesamt gestiegen. Der Taschenrechner war ein Türöffner für höhere Sphären – mit KI wird es ähnlich sein.»
Das ist die optimistische Sicht. So einfach sehen das allerdings nicht alle. Die MIT-Forscherin Kos’myna etwa sagte in der «Zeit»:
Auch der Soziologe Michael Gerlich von der SBS Swiss Business School in Kloten möchte differenzieren. Zwar sei das Auslagern von Wissen tatsächlich nichts Neues: «Seit wir in Felsen ritzen, speichern wir Gedanken ausserhalb des Kopfes.» Doch der Unterschied zur KI sei fundamental. «Ein Taschenrechner hilft bei Zahlen, ein Navi bei der Orientierung – das sind isolierte Aufgaben. ChatGPT aber greift in den Kern des Denkens ein.» Genauer: ins kritische Denken – jenes Hinterfragen, Reflektieren, Kontextualisieren, das nicht angeboren ist, sondern entwickelt werden muss.
Kleinkinder ab etwa zwei Jahren beginnen, Ursache und Wirkung zu begreifen. Zwischen dem dritten und siebten Lebensjahr entwickeln sie ein erstes Verständnis für Perspektiven und Logik. Ab etwa sieben Jahren erkennen Kinder Widersprüche, hinterfragen Regeln. Darauf aufbauend lernen Jugendliche ab etwa zwölf Jahren, abstrakt und hypothetisch zu denken – und damit beginnt das kritische Denken zu reifen und sich durch Bildung, Diskussionen und Erfahrungen zu festigen.
Ausgerechnet diese Fähigkeit, die manche Forschende als die vielleicht wertvollste Fähigkeit bezeichnen, die das Bildungssystem uns auf den Weg mitgeben kann, scheint die KI zu untergraben. Das zeigen mehrere Studien, auch eine von Gerlich. Bei Jugendlichen ist das besonders problematisch. «Wenn als junger Mensch das kritische Denken noch gar nicht ausgebildet ist und dann kommt dieses Werkzeug, das einem die Mühe abnimmt, dann ist das hochproblematisch», sagt Gerlich.
Er spricht von einer «Wohlfühlfalle», in der die Chatbots unbewusst zur geistigen Bequemlichkeit beitragen. Die Texte der KI wirken auf den ersten Blick perfekt – flüssig, fehlerfrei, überzeugend. Und genau darin liege die Gefahr:
Doch Soziologe Gerlich will keineswegs schwarzmalen. Im Gegenteil: In einer noch nicht veröffentlichten Studie zeigt er, wie ChatGPT das kritische Denken sogar fördern kann – wenn man es richtig einsetzt. Der Schlüssel liegt darin, vor dem Fragen an die KI zu überlegen, was man wirklich wissen will. Und nicht einfach die Prüfungsaufgabe in ChatGPT kopieren und sich danach von der Antwort lenken lassen.
Die Schere öffne sich – um bis zu 60 Prozent, wie seine Studie zeigt.
Übertragen auf den Schulalltag heisst das: Erhält ein Schüler regelmässig eine 5,5 und ein anderer eine 4, trennt sie 1,5 Notenpunkte. Lernt der Stärkere nun, die KI gezielt zu nutzen, dem Schwächeren aber wird das nicht vermittelt, dann vergrössert sich der Abstand. Aus 1,5 werden 2,4 Notenpunkte. Heisst: Schreibt der eine künftig eine 6, rutscht der andere auf eine 3,6 – und damit ins Ungenügend.
Auf die Gefahr wachsender Bildungsungleichheit durch KI weist auch der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer hin. Wer die brillanten Texte von ChatGPT sinnvoll nutzen wolle, müsse sie kritisch hinterfragen, verbessern und in eigene Gedanken übersetzen können. «Diese hohe taxonomische Stufe kann einen Schereneffekt begünstigen, da nicht alle Schülerinnen und Schüler befähigt werden (können), ihr Lernen dieser neuen Ausgangslage anzupassen.»
Und nicht nur die geistigen, auch die materiellen Voraussetzungen drohen die Ungleichheit laut dem Lehrerverband zu verschärfen. Der Grund: Hochleistungs-KI ist oft kostenpflichtig, viele Gratisversionen arbeiten mit eingeschränkten Funktionen oder verlangen im Gegenzug Daten. Wer sich weder ein Abo noch moderne Hardware leisten kann, bleibt auf der Strecke.
Das ist die eine Sicht. Es gibt aber auch Argumente dafür, dass KI zur Chancengleichheit beitragen kann. Das zeigt eine Forschungsübersicht der Athabasca University in Kanada, die knapp 100 Studien ausgewertet hat. Chatbots könnten demnach Schülerinnen und Schüler individuell unterstützen, indem sie Inhalte vereinfachen oder Aufgaben adaptieren – jederzeit und ortsunabhängig. Sie fördern offenbar Motivation und Durchhaltevermögen, indem sie unmittelbare, personalisierte Rückmeldung geben. Und sie entlasten Lehrpersonen bei der Unterrichtsvorbereitung, der Korrektur oder dem Feedback.
Ob die Schulen in der Schweiz die Chancen der KI nutzen oder an ihren Herausforderungen scheitern, das zeigt sich ab kommender Woche, wenn die Schülerinnen und Schüler ins Klassenzimmer zurückkehren.
Für den Soziologen Michael Gerlich ist zentral, dass die momentane Euphorie um ChatGPT und Co. einer grundsätzlicheren Frage weicht: Wie gelingt es, dass junge Menschen in einer von KI geprägten Welt die Freude am eigenen Denken bewahren? Denn ohne diese Fähigkeit, sagt er, sei auch die beste Technologie nutzlos.
(aargauerzeitung.ch)
Aber sie hindert uns zunehmend daran, zwischen echten und fakes News zu unterscheiden.
Und das Schlimmste daran ist, dass so viele nicht gelernt haben, nach der Quelle von Informationen zu suchen.
Ich, in den 1960er Jahren geboren, habe gelernt, bei jedem Text, den ich lese, darauf zu achten, WER ihn WANN und WARUM geschrieben hat.
Schon mit Internet ist dies eine unmögliche Aufgabe geworden.
Traurig.
Wir scheinen alles zu tun, um das freie Denken und den Erwerb von kritischen Argumenten bereitwillig über Bord zu werfen.
Meiner Generation (Jg72) hat man seinerzeit in der Sekundarschule das verwenden von Taschenrechner noch verboten, weil "es dumm macht und als Erwachsene könnt ihr dann nicht richtig rechnen!"
Es ist nicht ChatGPT, das "dumm" macht. Es ist das "nicht selber erarbeiten".
Wenn ich ein Buch präsentieren muss und es nicht lese, spielt es keine Rolle, ob ich eine Zusammenfassung von Chat GPT nehme oder die meiner Schwester, die es ein Jahr zuvor schon präsentiert hat!
„Macht Künstliche Intelligenz unsere Kinder/die gesamte Gesellschaft dumm/dümmer und angreifbarer?“
Die KI wird m.E. viel mehr Probleme als Vorteile generieren. Man sieht nur schon jetzt, wieviel Schaden das Internet bisher schon angerichtet hat (Online-Betrug, Phishing, Scamming, usw.). Das wird mit KI bestimmt noch schlimmer. Dass beispielsweise Schockanrufe eine andere Dimension annehmen würden, da Stimmen perfekt simuliert werden können. Man darf gespannt sein. Aber tendenziell läuft irgendwie alles nur noch aus dem Ruder.