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Russland

Gericht in Russland löst Menschenrechtsorganisation Memorial auf

Menschenrechtsorganisation «Memorial» durch russisches Gericht aufgelöst

28.12.2021, 11:5029.12.2021, 02:31
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Ungeachtet internationaler Kritik hat Russlands oberstes Gericht die international bekannte Menschenrechtsorganisation Memorial aufgelöst.

Richterin Alla Nasarowa gab am Dienstag der Agentur Interfax zufolge einem entsprechenden Antrag der Generalstaatsanwaltschaft wegen Verstosses gegen russische Gesetze statt – u.a. stuften die russische Behörden die internationale Memorial-Gesellschaft seit 2016 als «ausländischen Agenten» ein. Die Richterin begründete ihre Entscheidung nicht – sie folgte dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft.

Memorial weist die Vorwürfe zurück und beklagt politische Verfolgung. Jan Ratschinski von der Memorial-Leitung kündigte an, gegen das Urteil vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorzugehen.

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Ein Unterstützer «Memorial» (International Memorial) steht vor dem Obersten Gerichtshof Russlands am 14. Dezember 2021. Bild: keystone

Vor dem Gericht in Moskau versammelten sich mehr als 100 Unterstützer, wie Bilder von Memorial bei Twitter zeigten. Es habe vereinzelt auch Festnahmen gegeben. Diplomaten aus 15 Ländern hätten den Prozess verfolgt, darunter Deutschland, teilte das Gericht der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti zufolge mit.

EU-Aussbenauftragter entsetzt

Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell hat mit Bestürzung auf die von einem russischen Gericht angeordnete Auflösung der international geachteten Menschenrechtsorganisation Memorial reagiert. Die Arbeit von Memorial sei wichtig für die Aufarbeitung politischer Unterdrückung und Menschenrechtsverstösse, schrieb Borrell am späten Dienstagabend auf Twitter. Die EU bedauere den Gerichtsbeschluss deshalb zutiefst. Für die Entwicklung und den Fortschritt einer Gesellschaft sei «der kritische Blick zurück in ihre Vergangenheit unentbehrlich», mahnte Borrell. Wer sich hierfür engagiere, werde durch die Erstickung von Freiheiten geschwächt.

Die von Russlands oberstem Gericht am Dienstag verfügte Auflösung der Organisation gilt als der mit Abstand schwerste Schlag gegen die russische Menschenrechtsbewegung. Angesichts der öffentlichen Kritik des Kremlchefs Wladimir Putin an Memorial kam der Richterspruch aber nicht überraschend.

Auflösung als «politische Entscheidung»

Die Ende der 1980er Jahre gegründete Gesellschaft sprach von einer «politischen Entscheidung» ohne Rechtsgrundlage. Ziel sei die «Zerstörung einer Organisation, die sich mit der Geschichte politischer Repressionen und mit dem Schutz der Menschenrechte befasst». Menschenrechtler beklagen zunehmende autoritäre Tendenzen und die Verfolgung Andersdenkender in Russland.

Der Vertreter der russischen Generalstaatsanwaltschaft, Alexej Dschafjarow, sagte vor Gericht, dass Memorial mit seiner Arbeit die vor 30 Jahren aufgelöste Sowjetunion als «Terrorstaat» darstelle und Lügen über das Land verbreite.

Die russische Justiz warf Memorial wiederholte Verstösse gegen das «Gesetz über ausländische Agenten» vor. Das Gesetz sieht vor, dass Empfänger von Zahlungen aus dem Ausland als «Agenten» bezeichnet werden können.
Memorial ist mehrfach zu Geldstrafen verurteilt worden, weil sie sich selbst nicht als ausländischer Agent bezeichnet.

Das Regelwerk steht international als politisches Instrument für willkürliche Entscheidungen gegen Andersdenkende in der Kritik – so sind auch viele Journalisten davon betroffen. Beklagt wird, dass jene, die sich für die Rechte von Menschen einsetzen, als Spione stigmatisiert würden. Memorial fordert seit langem die Aufhebung des Gesetzes.

Einsatz für politische Gefangene

Die Organisation setzt sich zum Ärger der russischen Führung etwa auch für politische Gefangene ein – 349 gibt es demnach auf der Liste.

Viele Oppositionelle sind in Russland als Extremisten von der Justiz eingestuft, darunter die Anhänger des inhaftierten Kremlgegners Alexej Nawalny. Memorial sieht sich durch das Führen einer Liste zu politischen Gefangenen dem Vorwurf ausgesetzt, «das Mitwirken in terroristischen und extremistischen Organisationen» zu rechtfertigen. Das sei falsch: Erfasst würden Menschen, die aus politischen Gründen verfolgt würden, sagte die Memorial-Juristin Tatjana Gluschkowa.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte Memorial vorgeworfen, Nazi-Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg rehabilitiert zu haben.

Die renommierte Organisation war Ende der 1980er Jahre in Moskau vom Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow mitbegründet worden, offiziell registriert wurde Memorial 1990. Die Organisation widmet sich der Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft. (yam/sda/dpa)

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21 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Linus Luchs
28.12.2021 12:24registriert Juli 2014
Erdogan kündigt die Instanbul-Konvention zum Schutz der Frauen vor Gewalt, in Polen wird ein Knebelgesetz gegen die Medien verabschiedet, in Ungarn werden Homosexuelle mit einem neuen Gesetz kriminalisiert, die Taliban eliminieren die Wahlkommission, Putin löst eine Menschenrechtsorganisation auf ... Der Totalitarismus ist weltweit bedrohlich im Aufwind.
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_kokolorix
28.12.2021 13:42registriert Januar 2015
Memorial hat sich vor allem der Aufarbeitung der sowjetischen Umerziehungslager verschrieben.
Etwas, das Putin gar nicht recht ist, baut er doch gegenwärtig gerade wieder ein ähnliches System auf.
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B-Arche
28.12.2021 13:21registriert Februar 2016
Somit ist es quasi ab heute illegal an die Opfer des Stalinismus und der sowjetischen Diktatur zu gedenken und darüber aufzuklären.

Das wäre so wie wenn Deutschland alle Organisationen verbieten würde welche die Opfer des Nationalsozialismus gedenken.

Was Putin will ist klar. Nachdem Stalin in russischen Schulen nicht mehr als Massenmörder gelehrt wird und der Stalinkult wieder aufersteht möchte Putin die Sowjetunion wieder aufbauen als Grossmacht. Alles deutet darauf hin. Mit strenger Abschottung vom Westen und mit Bindung an China. Diktatur als neuer weltweiter Normalfall.
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