Ungeachtet internationaler Kritik hat Russlands oberstes Gericht die international bekannte Menschenrechtsorganisation Memorial aufgelöst.
Richterin Alla Nasarowa gab am Dienstag der Agentur Interfax zufolge einem entsprechenden Antrag der Generalstaatsanwaltschaft wegen Verstosses gegen russische Gesetze statt – u.a. stuften die russische Behörden die internationale Memorial-Gesellschaft seit 2016 als «ausländischen Agenten» ein. Die Richterin begründete ihre Entscheidung nicht – sie folgte dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft.
Memorial weist die Vorwürfe zurück und beklagt politische Verfolgung. Jan Ratschinski von der Memorial-Leitung kündigte an, gegen das Urteil vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorzugehen.
Vor dem Gericht in Moskau versammelten sich mehr als 100 Unterstützer, wie Bilder von Memorial bei Twitter zeigten. Es habe vereinzelt auch Festnahmen gegeben. Diplomaten aus 15 Ländern hätten den Prozess verfolgt, darunter Deutschland, teilte das Gericht der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti zufolge mit.
Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell hat mit Bestürzung auf die von einem russischen Gericht angeordnete Auflösung der international geachteten Menschenrechtsorganisation Memorial reagiert. Die Arbeit von Memorial sei wichtig für die Aufarbeitung politischer Unterdrückung und Menschenrechtsverstösse, schrieb Borrell am späten Dienstagabend auf Twitter. Die EU bedauere den Gerichtsbeschluss deshalb zutiefst. Für die Entwicklung und den Fortschritt einer Gesellschaft sei «der kritische Blick zurück in ihre Vergangenheit unentbehrlich», mahnte Borrell. Wer sich hierfür engagiere, werde durch die Erstickung von Freiheiten geschwächt.
The EU strongly deplores the Russian Supreme Court decision to liquidate #Memorial International, which has an important role in protecting
— Josep Borrell Fontelles (@JosepBorrellF) December 28, 2021
the memory of political repression & violation of human rights.
1/2
Die von Russlands oberstem Gericht am Dienstag verfügte Auflösung der Organisation gilt als der mit Abstand schwerste Schlag gegen die russische Menschenrechtsbewegung. Angesichts der öffentlichen Kritik des Kremlchefs Wladimir Putin an Memorial kam der Richterspruch aber nicht überraschend.
Die Ende der 1980er Jahre gegründete Gesellschaft sprach von einer «politischen Entscheidung» ohne Rechtsgrundlage. Ziel sei die «Zerstörung einer Organisation, die sich mit der Geschichte politischer Repressionen und mit dem Schutz der Menschenrechte befasst». Menschenrechtler beklagen zunehmende autoritäre Tendenzen und die Verfolgung Andersdenkender in Russland.
Der Vertreter der russischen Generalstaatsanwaltschaft, Alexej Dschafjarow, sagte vor Gericht, dass Memorial mit seiner Arbeit die vor 30 Jahren aufgelöste Sowjetunion als «Terrorstaat» darstelle und Lügen über das Land verbreite.
Die russische Justiz warf Memorial wiederholte Verstösse gegen das «Gesetz über ausländische Agenten» vor. Das Gesetz sieht vor, dass Empfänger von Zahlungen aus dem Ausland als «Agenten» bezeichnet werden können.
Memorial ist mehrfach zu Geldstrafen verurteilt worden, weil sie sich selbst nicht als ausländischer Agent bezeichnet.
Das Regelwerk steht international als politisches Instrument für willkürliche Entscheidungen gegen Andersdenkende in der Kritik – so sind auch viele Journalisten davon betroffen. Beklagt wird, dass jene, die sich für die Rechte von Menschen einsetzen, als Spione stigmatisiert würden. Memorial fordert seit langem die Aufhebung des Gesetzes.
Die Organisation setzt sich zum Ärger der russischen Führung etwa auch für politische Gefangene ein – 349 gibt es demnach auf der Liste.
Viele Oppositionelle sind in Russland als Extremisten von der Justiz eingestuft, darunter die Anhänger des inhaftierten Kremlgegners Alexej Nawalny. Memorial sieht sich durch das Führen einer Liste zu politischen Gefangenen dem Vorwurf ausgesetzt, «das Mitwirken in terroristischen und extremistischen Organisationen» zu rechtfertigen. Das sei falsch: Erfasst würden Menschen, die aus politischen Gründen verfolgt würden, sagte die Memorial-Juristin Tatjana Gluschkowa.
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte Memorial vorgeworfen, Nazi-Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg rehabilitiert zu haben.
Die renommierte Organisation war Ende der 1980er Jahre in Moskau vom Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow mitbegründet worden, offiziell registriert wurde Memorial 1990. Die Organisation widmet sich der Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft. (yam/sda/dpa)
Linus Luchs
_kokolorix
Etwas, das Putin gar nicht recht ist, baut er doch gegenwärtig gerade wieder ein ähnliches System auf.
B-Arche
Das wäre so wie wenn Deutschland alle Organisationen verbieten würde welche die Opfer des Nationalsozialismus gedenken.
Was Putin will ist klar. Nachdem Stalin in russischen Schulen nicht mehr als Massenmörder gelehrt wird und der Stalinkult wieder aufersteht möchte Putin die Sowjetunion wieder aufbauen als Grossmacht. Alles deutet darauf hin. Mit strenger Abschottung vom Westen und mit Bindung an China. Diktatur als neuer weltweiter Normalfall.