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Ukraine-Krieg: Die zwei letzten Journalisten aus Mariupol geflüchtet

«Die Russen jagten uns» – so erging es den zwei letzten Journalisten in Mariupol

21.03.2022, 21:5422.03.2022, 12:35
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Beim russischen Angriff auf die Ukraine gehört Mariupol zu den am stärksten betroffenen Städte. Der Ort im Südosten des Landes gilt als strategisch wichtiger Standpunkt und damit seit Beginn zu den Hauptzielen der Russen. Mittlerweile ist Mariupol umzingelt. Besonders prekär ist die Situation seit Sonntag, als Russland der Ukraine ein Ultimatum gestellt hat, die Stadt aufzugeben.

Mit der immer gefährlicher werdenden Situation in Mariupol verliessen am Wochenende auch Mstyslav Chernov und Evgeniy Maloletka die Stadt. Der Videojournalist und der Fotograf, welche beide für die «Associated Press» arbeiten, mussten ebenfalls fliehen. «Die Russen jagten uns. Sie hatten eine Liste mit verschiedenen Namen, inklusive den unseren. Und sie kamen näher», schreibt Chernov in seinem am Montag publizierten Artikel «Names on a list: Fleeing Mariupol, one checkpoint at a time». Ein Bericht, der eindrücklich aufzeigt, wie prekär die Situation in Mariupol tatsächlich ist.

Associated Press photographer Evgeniy Maloletka helps a paramedic to transport a woman injured during shelling in Mariupol, eastern Ukraine, Wednesday, March 2, 2022. (AP Photo/Mstyslav Chernov)
Fotograf Evgeniy Maloletka hilft dabei, eine verletzte Frau zu stützen.Bild: keystone

Der Krieg, eine Überraschung

Wie Chernov berichtet, erwartete in Mariupol kaum jemand so schnell einen Krieg. Er selbst habe es nach den Angriffen von Charkiw geahnt, dass Mariupol aufgrund seiner strategischen Wichtigkeit ebenfalls zu einem Ziel werden könne. Am 23. Februar reiste er mit Fotograf Maloletka deshalb in die Stadt. Als er auf dem Weg noch zusätzliche Autoreifen kaufte, konnte der Verkäufer den Grund dafür nicht verstehen.

«Ich sagte ihm, dass wir uns auf den Krieg vorbereiteten. Er schaute mich an, als wäre ich verrückt.»

Doch Chernovs Vorahnung bewahrheitete sich schnell. Um 03:30 Uhr nachts erreichten sie Mariupol. Nur eine Stunde später startete der Krieg. So schnell und abrupt, dass es für viele zu spät war. Etwa ein Viertel der 430'000 Bewohner verliess Mariupol in den ersten Tagen, als man das noch relativ einfach konnte. Viele wollten abwarten.

«Nur wenige hatten gedacht, dass es zum Krieg kommt. Und als die anderen ihren Fehler einsahen, war es zu spät.»
Associated Press videographer Mstyslav Chernov walks amid smoke rising from an air defense base in the aftermath of a Russian strike in Mariupol, Ukraine, Thursday, Feb. 24, 2022. (AP Photo/Evgeniy Ma ...
Mstyslav Chernov nach einem Angriff auf eine Militärbasis am 24. Februar.Bild: keystone

Sämtliche Informationsquellen weg

Zu Beginn des Angriffs stellte Chernov eine Strategie der russischen Armee fest. Nach und nach wurden mit Bombenangriffen die Stromversorgung, das Wasser und die Nahrungsmittelzufuhr gestoppt, ehe sich die Russen die Handy-, Radio- und TV-Verbindungen vorknöpften. Eine Zerstörung, die gleich zweierlei Probleme bereitete.

«Erstens: das Chaos. Die Leute wussten nicht, was passierte, und bekamen Panik.»
«Zweitens: das Verhindern von Strafen. Ohne Informationen aus der Stadt, ohne Bilder von zerstörten Gebäuden und sterbenden Kindern, konnten die russischen Streitkräfte das tun, was sie wollten.»

Mit der zunehmend schlimmer werdenden Lage verliess ein Grossteil der Journalistinnen und Journalisten die Stadt. Nur Chernov und Maloletka entschieden sich dazu, zu bleiben. Jemand sollte das Elend der Stadt weiterhin zeigen, fanden sie. Gleichzeitig brachten sie sich damit in Gefahr. Denn den Russen passte es nicht, dass weiterhin Bilder und Videos aus Mariupol an die Öffentlichkeit gelangten.

A fire burns at an apartment building after it was hit by shelling in Mariupol, Ukraine, Friday, March 11, 2022. (AP Photo/Mstyslav Chernov)
Ein Wohnhaus steht nach einem Angriff in Flammen.Bild: keystone

Andauernde Angriffe und zivile Opfer

Chernov bericht auch vom Elend der Zivilisten in Mariupol. «Die Toten kamen schnell», schreibt er. «Am 27. Februar sahen wir, wie ein Doktor versuchte, ein kleines Mädchen zu retten, das von einem Granatsplitter getroffen worden war. Sie starb. Ein zweites Kind starb ebenfalls, dann ein drittes.» Gleichzeitig sei die medizinische Versorgung immer schwieriger geworden.

«Ambulanzen hörten auf, Verwundete zu holen, da man keinen Empfang mehr hatte und nicht mehr anrufen konnte. Gleichzeitig konnten sie nicht durch die zerbombten Strassen fahren.»

Besonders eindrücklich beschreibt Chernov einen Angriff auf ein Einkaufszentrum am 3. März. Leute waren dabei, den Laden zu plündern, als plötzlich Granaten einschlugen. Die Journalisten eilten daraufhin zum Spital, wo in der Folge zahlreiche Verletzte hintransportiert wurden, manche von ihnen in Einkaufswägen. Immer wieder kam es zu solch dramatischen Zwischenfällen, womit auch Chernov zu kämpfen hatte.

«Ich habe Tote in Spitälern, Leichen auf den Strassen und dutzende Körper gesehen, die in Massengräber gestossen wurden. Ich habe so viel Tod erlebt, dass ich es filmte, fast ohne etwas zu spüren.»
Dead bodies are placed into a mass grave on the outskirts of Mariupol, Ukraine, Wednesday, March 9, 2022, as people cannot bury their dead because of heavy shelling by Russian forces. (AP Photo/Mstysl ...
Keine Zeit für richtige Begräbnisse – ein Opfer wird in ein Massengrab gelegt.Bild: keystone

Dennoch zweifelten die beiden Journalisten nicht daran, in Mariupol bleiben zu wollen. Zumal Ärzte sie immer wieder darum baten, die Verletzten und Toten der Stadt zu fotografieren und damit der Welt zu zeigen. So gelang es Chernov und Maloletka immer wieder, trotz ihrer schwierigen Situation die Aufmerksamkeit auf Mariupol zu lenken. Um die Welt ging etwa ihr Bild einer verletzten schwangeren Frau, die nach einem Angriff auf eine Entbindungsklinik erst gerettet wurde, ehe sie doch noch verstarb.

Nur noch Propaganda

Chernov berichtet zudem von der russischen Propaganda, welche auch in Mariupol dauernd präsent ist. Ukrainische Radio- oder TV-Sender gebe es seit geraumer Zeit nicht mehr. Wer sich informieren will, hat laut Chernov keine Chance mehr:

«Der einzige Sender verbreitete russische Lügen. Dass Mariupol von den Ukrainern als Geisel genommen worden sei. Dass sie auf Gebäude schiessen und chemische Waffen entwickeln würden.»

Und wie Chernov schreibt, zeigt diese Propaganda Wirkung. So sei es immer wieder vorgekommen, dass er mit Leuten gesprochen habe, welche diesen Nachrichten geglaubt hätten. «Obwohl sie die Beweise vor ihren eigenen Augen hatten», schreibt er.

Associated Press photographer Evgeniy Maloletka takes a photo of the lifeless body of a girl, killed from shelling of a residential area, at the city hospital of Mariupol, eastern Ukraine, Sunday, Feb ...
Ärzte baten die beiden Journalisten immer wieder, die Bilder der Verletzten zu teilen.Bild: keystone

Eine endlos lange Flucht

Am Ende hatten Chernov und Maloletka keine Wahl mehr und mussten die Stadt doch auch noch verlassen. «Wenn sie euch kriegen, stellen sie euch vor eine Kamera und zwingen euch zu sagen, dass alles, was ihr gefilmt habt, eine Lüge ist», hätten ukrainische Soldaten ihnen gesagt. Somit trat man mit einem schlechten Gefühl die Flucht an.

«Es fühlte sich nicht wie eine Rettung an. Ich war extrem dankbar, aber fühlte mich irgendwie taub. Ich schämte mich, dass ich wegging.»

So stiegen die beiden Journalisten mit einer dreiköpfigen Familie in ein Auto und stellten sich in einen fünf Kilometer langen Stau, um die Stadt zu verlassen. Etwa 30'000 Menschen hätten an diesem Tag Mariupol verlassen, schreibt Chernov, so viele, dass die russischen Soldaten keine Zeit hatten, um in jedes Auto zu schauen. Dennoch sei die Stimmung äusserst angespannt gewesen.

This satellite image provided by Maxar Technologies on Friday, March 18, 2022 shows a line of cars leaving Mariupol, Ukraine. (Satellite image ©2022 Maxar Technologies via AP)
Jeden Tag versuchen zahlreiche Menschen, Mariupol zu verlassen.Bild: keystone
«Die Leute waren nervös. Sie stritten, schrien sich an.»

Auf dem Weg aus der Stadt habe man 15 russische Checkpoints durchqueren müssen. Sämtliche mit russischen Soldaten besetzt, welche schwer bewaffnet waren. Bei jedem Checkpoint habe die Mutter der mitfahrenden Familie laut gebetet, schreibt Chernov. Danach war es endlich geschafft. Der 16. Checkpoint war mit ukrainischen Soldaten besetzt, womit die beiden Journalisten und die Familie in Sicherheit waren.

Die Erleichterung hält sich bei Chernov dennoch in Grenzen. Zu eindrücklich waren die Bilder, die er bei der Ausreise aus Mariupol gesehen hat. Deshalb schreibt er:

«Meine Hoffnungen, dass Mariupol überleben wird, schrumpften. Ich realisierte, dass die ukrainische Armee so viele Checkpoints durchbrechen muss, ehe sie in die Stadt kommen kann. Und das wird nicht passieren.»

(dab)

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10 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Liebu
21.03.2022 23:02registriert Oktober 2020
Danke, habt ihr ausgehalten. Habt ihr das dokumentiert um anzuklagen, habt ihr euer Leben dafür riskiert.
Ihr habt freiwillig mit den Bewohnern erlebt, was sie nie erleben wollten. Habt sie begleitet auf ihrem letzten Weg.
Ich hoffe, eure Bilder helfen, Kriegsverbrecher anzuklagen und zur Rechenschaft zu ziehen.
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So oder so
21.03.2022 22:36registriert Januar 2020
Danke für denn Bericht. Auch bei uns hat anscheinend die Russische Propaganda ihre Spuren hintzerlassen. Putins Armee Kämpft noch genau gleich wie im Tscheschenien Krieg einfach das sie jetzt noch ein Paar einzelne Hi- Tech Waffen haben. Erbärmlicher Haufen , da muss Putin die Bevölkerung mit Gehirnwäsche Kontrollieren - hat Wirtschaft und Armee nicht weiter gebracht.
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malu 64
22.03.2022 01:35registriert September 2014
Man muss schon ein bisschen verrückt sein, um aus einem Kriegsgebiet zu berichten. Aber es ist wichtig, dass wir unabhängige Nachrichten aus den
umkämpften Gebieten erhalten. Sie zeigen uns tagtäglich die Perversität des Krieges. Das menschliche Leid und die sinnlose Zerstörung.
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