Beim russischen Angriff auf die Ukraine gehört Mariupol zu den am stärksten betroffenen Städte. Der Ort im Südosten des Landes gilt als strategisch wichtiger Standpunkt und damit seit Beginn zu den Hauptzielen der Russen. Mittlerweile ist Mariupol umzingelt. Besonders prekär ist die Situation seit Sonntag, als Russland der Ukraine ein Ultimatum gestellt hat, die Stadt aufzugeben.
Mit der immer gefährlicher werdenden Situation in Mariupol verliessen am Wochenende auch Mstyslav Chernov und Evgeniy Maloletka die Stadt. Der Videojournalist und der Fotograf, welche beide für die «Associated Press» arbeiten, mussten ebenfalls fliehen. «Die Russen jagten uns. Sie hatten eine Liste mit verschiedenen Namen, inklusive den unseren. Und sie kamen näher», schreibt Chernov in seinem am Montag publizierten Artikel «Names on a list: Fleeing Mariupol, one checkpoint at a time». Ein Bericht, der eindrücklich aufzeigt, wie prekär die Situation in Mariupol tatsächlich ist.
Wie Chernov berichtet, erwartete in Mariupol kaum jemand so schnell einen Krieg. Er selbst habe es nach den Angriffen von Charkiw geahnt, dass Mariupol aufgrund seiner strategischen Wichtigkeit ebenfalls zu einem Ziel werden könne. Am 23. Februar reiste er mit Fotograf Maloletka deshalb in die Stadt. Als er auf dem Weg noch zusätzliche Autoreifen kaufte, konnte der Verkäufer den Grund dafür nicht verstehen.
Doch Chernovs Vorahnung bewahrheitete sich schnell. Um 03:30 Uhr nachts erreichten sie Mariupol. Nur eine Stunde später startete der Krieg. So schnell und abrupt, dass es für viele zu spät war. Etwa ein Viertel der 430'000 Bewohner verliess Mariupol in den ersten Tagen, als man das noch relativ einfach konnte. Viele wollten abwarten.
Zu Beginn des Angriffs stellte Chernov eine Strategie der russischen Armee fest. Nach und nach wurden mit Bombenangriffen die Stromversorgung, das Wasser und die Nahrungsmittelzufuhr gestoppt, ehe sich die Russen die Handy-, Radio- und TV-Verbindungen vorknöpften. Eine Zerstörung, die gleich zweierlei Probleme bereitete.
Mit der zunehmend schlimmer werdenden Lage verliess ein Grossteil der Journalistinnen und Journalisten die Stadt. Nur Chernov und Maloletka entschieden sich dazu, zu bleiben. Jemand sollte das Elend der Stadt weiterhin zeigen, fanden sie. Gleichzeitig brachten sie sich damit in Gefahr. Denn den Russen passte es nicht, dass weiterhin Bilder und Videos aus Mariupol an die Öffentlichkeit gelangten.
Chernov bericht auch vom Elend der Zivilisten in Mariupol. «Die Toten kamen schnell», schreibt er. «Am 27. Februar sahen wir, wie ein Doktor versuchte, ein kleines Mädchen zu retten, das von einem Granatsplitter getroffen worden war. Sie starb. Ein zweites Kind starb ebenfalls, dann ein drittes.» Gleichzeitig sei die medizinische Versorgung immer schwieriger geworden.
Besonders eindrücklich beschreibt Chernov einen Angriff auf ein Einkaufszentrum am 3. März. Leute waren dabei, den Laden zu plündern, als plötzlich Granaten einschlugen. Die Journalisten eilten daraufhin zum Spital, wo in der Folge zahlreiche Verletzte hintransportiert wurden, manche von ihnen in Einkaufswägen. Immer wieder kam es zu solch dramatischen Zwischenfällen, womit auch Chernov zu kämpfen hatte.
Dennoch zweifelten die beiden Journalisten nicht daran, in Mariupol bleiben zu wollen. Zumal Ärzte sie immer wieder darum baten, die Verletzten und Toten der Stadt zu fotografieren und damit der Welt zu zeigen. So gelang es Chernov und Maloletka immer wieder, trotz ihrer schwierigen Situation die Aufmerksamkeit auf Mariupol zu lenken. Um die Welt ging etwa ihr Bild einer verletzten schwangeren Frau, die nach einem Angriff auf eine Entbindungsklinik erst gerettet wurde, ehe sie doch noch verstarb.
Chernov berichtet zudem von der russischen Propaganda, welche auch in Mariupol dauernd präsent ist. Ukrainische Radio- oder TV-Sender gebe es seit geraumer Zeit nicht mehr. Wer sich informieren will, hat laut Chernov keine Chance mehr:
Und wie Chernov schreibt, zeigt diese Propaganda Wirkung. So sei es immer wieder vorgekommen, dass er mit Leuten gesprochen habe, welche diesen Nachrichten geglaubt hätten. «Obwohl sie die Beweise vor ihren eigenen Augen hatten», schreibt er.
Am Ende hatten Chernov und Maloletka keine Wahl mehr und mussten die Stadt doch auch noch verlassen. «Wenn sie euch kriegen, stellen sie euch vor eine Kamera und zwingen euch zu sagen, dass alles, was ihr gefilmt habt, eine Lüge ist», hätten ukrainische Soldaten ihnen gesagt. Somit trat man mit einem schlechten Gefühl die Flucht an.
So stiegen die beiden Journalisten mit einer dreiköpfigen Familie in ein Auto und stellten sich in einen fünf Kilometer langen Stau, um die Stadt zu verlassen. Etwa 30'000 Menschen hätten an diesem Tag Mariupol verlassen, schreibt Chernov, so viele, dass die russischen Soldaten keine Zeit hatten, um in jedes Auto zu schauen. Dennoch sei die Stimmung äusserst angespannt gewesen.
Auf dem Weg aus der Stadt habe man 15 russische Checkpoints durchqueren müssen. Sämtliche mit russischen Soldaten besetzt, welche schwer bewaffnet waren. Bei jedem Checkpoint habe die Mutter der mitfahrenden Familie laut gebetet, schreibt Chernov. Danach war es endlich geschafft. Der 16. Checkpoint war mit ukrainischen Soldaten besetzt, womit die beiden Journalisten und die Familie in Sicherheit waren.
Die Erleichterung hält sich bei Chernov dennoch in Grenzen. Zu eindrücklich waren die Bilder, die er bei der Ausreise aus Mariupol gesehen hat. Deshalb schreibt er:
(dab)
Ihr habt freiwillig mit den Bewohnern erlebt, was sie nie erleben wollten. Habt sie begleitet auf ihrem letzten Weg.
Ich hoffe, eure Bilder helfen, Kriegsverbrecher anzuklagen und zur Rechenschaft zu ziehen.
umkämpften Gebieten erhalten. Sie zeigen uns tagtäglich die Perversität des Krieges. Das menschliche Leid und die sinnlose Zerstörung.