Alle sind sich einig: Putins Krieg gegen die Ukraine ist der reine Wahnsinn. Nicht einig sind sich die Experten jedoch über die Gründe. Ihre Erklärungen widersprechen sich zum Teil diametral. Hier die drei wichtigsten Thesen und ihre Vertreter:
Im März 2014 erschien in der «Washington Post» ein Kommentar von Henry Kissinger. Der ehemalige US-Aussenminister und Vordenker gilt als führender Vertreter der «Realisten». Diese werden nicht von Moral, sondern von Pragmatismus geleitet. Diesen Anspruch stellen sie zumindest.
Die berühmte Politik der Eindämmung (containment) der Amerikaner gegenüber der Sowjetunion ist das bekannteste Beispiel realistischer Aussenpolitik. Es ging darum, den Einfluss der Kommunisten in Grenzen zu halten, aber nicht darum, die kommunistische Regierung zu stürzen, wie dies später die Neokonservativen anstrebten.
Zurück zu Kissinger. Er forderte vor exakt acht Jahren, dass die Ukraine zu einem neutralen Puffer zwischen Ost und Westen werden müsse. «Der Westen muss verstehen, dass die Ukraine für Russland niemals einfach ein fremdes Land sein wird», so Kissinger. «(…) Die Ukraine war über Jahrhunderte Teil von Russland und die Geschichte der beiden Länder sind miteinander verwoben.»
Aus diesen Gründen schlägt Kissinger folgende Punkte für eine friedliche Koexistenz der beiden Nachbarn vor: Die Ukraine hat das Recht, souverän darüber zu entscheiden, mit wem sie Handel betreiben und mit wem sie politische Partnerschaften eingehen will. Doch sie darf nicht der Nato beitreten. Die Ukraine soll also dem Beispiel von Finnland folgen. Russland seinerseits hat kein Recht, die Krim zu annektieren.
John Mearsheimer gilt heute als einer der weltweit führenden Politologen. Er gehört ebenfalls der Schule der Realisten an. In der jüngsten Ausgabe des «Economist» geht er in einem Gastbeitrag noch weiter als Kissinger. «Der Westen, und insbesondere Amerika, sind grundsätzlich für die Krise verantwortlich, die im Februar 2014 begann», so Mearsheimer.
Gemäss Mearsheimer begann das Unglück bereits an einem Nato-Gipfel im April 2008. Damals verkündete US-Präsident George W. Bush, dass die Ukraine und Georgien bald der Nato beitreten würden. Putin flippte aus und drohte bereits damals mit der Annexion der Krim, eine Drohung, die er 2014 nach der Maidan-Revolution auch in die Tat umsetzte.
Im Dezember 2021 machte Putin Ernst. Mearsheimer stellt fest, dass die Ukraine zu diesem Zeitpunkt ein De-facto-Mitglied der Nato wurde, weil der Westen ihr defensive Waffen lieferte und begann, die ukrainischen Soldaten auszubilden. «Was heisst schon defensiv?», so Mearsheimers rhetorische Frage.
Obwohl er ihn verurteilt, ist für den Realisten Mearsheimer Putins Krieg somit eine höhere Form von Notwehr. «Für die russische Führung haben die Ereignisse wenig mit imperialistischen Ambitionen zu tun», stellt er fest. «Es geht darum, was sie als eine direkte Bedrohung für Russlands Zukunft betrachten.»
Sergei Dobrynin ist ein russischer Journalist. In der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift «The Atlantic» schildert er eine Begegnung mit dem Anthropologen Wladimir Arsenyew im Februar 2000 in St.Petersburg. Putin werde Russland in die Hölle führen, erklärte Arsenyew schon damals. «Warum?», wollte Dobrynin wissen. «Er ist ein Tschekist (Mitglied des Geheimdienstes). «Einmal ein Tschekist, immer ein Tschekist. Er ist das reine Böse.»
Der russische Geheimdienst hat tatsächlich eine grauenhafte Vergangenheit. In der Ära von Josef Stalin und seinem Geheimdienstchef Lawrenti Beria verübten die Geheimpolizisten Verbrechen, die denen der SS in nichts nachstanden.
Auch Putin schreckt vor Gewalt nicht zurück. So soll sein Geheimdienst Anschläge auf Hochhäuser in Moskau verübt und diese Taten Terroristen in die Schuhe geschoben haben, um so den Krieg gegen Tschetschenien zu rechtfertigen. Bei den Anschlägen sind hunderte von Menschen gestorben.
Alexander Litwinenko, der diese Schandtaten enthüllen wollte, wurde später vom russischen Geheimdienst in London vergiftet, genau wie später Alexey Nawalny, der den Giftanschlag mit Glück überlebte und heute in einem russischen Straflager schmachtet.
Der einst reichste Mann Russland, Michail Chodorkowsky, erhielt ebenfalls Gelegenheit für einen Gastbeitrag im «Economist». Er kommt zum gleichen Ergebnis wie Dobynin und argumentiert wie folgt:
Putin sei als Mitglied von Strassengangs in St.Petersburg aufgewachsen und habe später mit der örtlichen Mafia zusammengearbeitet, so Chodorkowsky. Er möge sich heute als Staatsmann ausgeben, doch: «Ein Bandit wird immer ein Bandit bleiben und die Welt durch die Brille eines Banditen betrachten.»
Der ehemalige Oligarch Chodorkowsky hat selbst zehn Jahre in russischen Gefängnissen geschmachtet. Er wisse, wie Banditen ticken, erklärt er daher. Man könne ihnen nur mit einer Demonstration von Gewalt begegnen, alles andere würden sie als Zeichen von Schwäche interpretieren.
Putin sei besessen von der Idee, eine historische Figur wie Stalin zu werden, so Chodorkowsky weiter. Aber er habe nicht die Absicht, Selbstmord zu begehen. Deshalb müsse die Nato der Ukraine helfen, etwa mit einer No-fly-Zone.
«Ich will weder mein Land noch die Nato in einen globalen Konflikt hineinziehen», so Chodorkowsky. «Aber mit einem Schurken zu verhandeln, ohne die eigene Stärke zu demonstrieren, führt genau zu diesem Resultat.»
Selbst die ruchlosesten Diktatoren wollen ihr Handeln erklären und rechtfertigen. Unbeachtet, ob sie es zynisch tun oder ob sie daran glauben, sie brauchen eine Ideologie. Das trifft auch auf Putin zu. Er greift dabei tief in die mythische Trickkiste Russlands, nämlich auf die Schriften von Iwan Iljin.
Iljin war ein russischer Adliger und Religionsphilosoph, der vor den Bolschewisten zunächst nach Deutschland floh und später in die Schweiz auswanderte. 1954 verstarb er in Zollikon bei Zürich. Putin liess 2005 seine sterblichen Überreste in ein Kloster nach Moskau überführen.
Iljin hegte grosse Sympathien für den Faschismus. Er bedauerte, dass Hitler und Stalin sich bekriegten, statt gegen die Angelsachsen zu kooperieren. Russland war für ihn ein Land, das stets von äusseren Feinden bedroht wurde. In seinem Buch «Der Weg in die Unfreiheit» umschreibt der Historiker Timothy Snyder, ein profunder Kenner der Ukraine, die Grundlage von Iljins Denken wie folgt: «Der christliche totalitäre Faschismus ist eine Einladung an Gott, auf die Erde zurückzukehren, um Russland zu helfen, die Geschichte zu Ende zu bringen.»
Putin sieht sich in der Rolle eines von Gott gesandten Retters. Dabei schreckt er vor nichts zurück, denn: «Iljin betrachtete Russland als Gottes Heimatland, das erhalten werden muss, koste es, was es wolle.»
In einem Interview mit Ezra Klein in der «New York Times» erklärte Snyder denn auch, die Nato-Ostererweitungs-These sei eine vorgeschobene Schutzbehauptung. Letztlich sei Putins Mystik, der Wille, die Reinheit Russlands wieder herzustellen, die Triebfeder für seinen irren Krieg.