Wissen
Coronavirus

Coronavirus: Rolle von Aerosolen bleibt unklar

Aerosole mit Coronaviren
Aerosole mit Coronaviren.Bild: Shutterstock

Unterschiedliche Ansichten in der Fachwelt: Rolle von Aerosolen bei Corona unklar

02.08.2020, 07:0802.08.2020, 13:23
Mehr «Wissen»

Virushaltige Partikel in der Luft, sogenannte Aerosole, spielen bei der Ansteckung mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 eine Rolle – das ist inzwischen gängige Meinung. Doch wie gross diese Rolle ist, dazu gibt es in der Fachwelt unterschiedliche Ansichten.

Einig sind sich die Forscher darin, dass vor allem in geschlossenen Räumen die Ansteckungsgefahr am grössten ist.

Mitte Juli veröffentlichten Forscher um Michael Klompas von der Harvard Medical School eine Analyse, in der sie zu dem Schluss kommen, dass die Virusübertragung mittels Aerosolen nicht der dominante Weg der Verbreitung sein könne. Zum Beleg führen sie einen Vergleich an: Bei anderen Krankheiten wie Masern, von denen man weiss, dass sie über Aerosole verbreitet werden, stecke ein Infizierter viel mehr Personen an als bei Sars-CoV-2. Die sogenannte Reproduktionszahl sei kleiner und eher mit der von üblichen Grippeviren vergleichbar.

>>> Coronavirus: Hier geht es zum Liveticker

Durchdringen von Masken

Die Forscher mahnen an, auch andere mögliche Übertragungswege wie Schmierinfektionen nicht ausser Acht zu lassen. Wenn Aerosole der Hauptübertragungsweg wären, so die Forscher, reichten Regeln wie zwei Meter Abstand oder die Maskenpflicht nicht aus, um Ansteckungen zu vermeiden. Denn anders als dicke Tropfen Schnodder oder Speichel sinken die Mini-Teilchen nicht recht schnell zu Boden und sie durchdringen sogar medizinische Masken.

Der frühere Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin, Gerhard Scheuch, weist aber darauf hin, das gerade die sehr kleinen Teilchen von unter 5 Mikrometern stundenlang in der Luft schweben – und dann eingeatmet werden könnten. Nur in der Nase und in der Lunge befänden sich sogenannte ACE2-Rezeptoren, die es den Viren ermöglichen, in menschliche Zellen einzudringen und sich zu vermehren, erläuterte Scheuch in Gemünden (Wohra) der Nachrichtenagentur DPA. «Durch anschliessendes Niesen gelangen die Viren wieder in die Luft.» Er zählt sich zu einer Reihe von Wissenschaftlern, die die Ansteckung über Aerosole sogar für den wichtigsten Infektionsweg halten.

Rund 240 Wissenschaftler hatten Anfang Juli ein Schreiben in einer Fachzeitschrift veröffentlicht, in dem sie Gesundheitsbehörden wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorwerfen, in ihren Empfehlungen das Ansteckungsrisiko durch Aerosole zu vernachlässigen. Die WHO reagierte erst zurückhaltend, ging wenige Tage später aber in einem Beitrag ausführlicher auf Virusübertragung via Aerosole ein.

Menschen mit Schutzmasken im Zug der SBB zwischen Sargans und Z
Wenn sich viele Menschen in einem geschlossenen Raum aufhalten, steigt das Infektionsrisiko.Bild: sda

Auch das in Deutschland zuständige Robert Koch-Institut hat seine Erläuterungen zur Coronavirus-Ansteckungsgefahr inzwischen erweitert und hält unter anderem fest, dass der längere Aufenthalt in kleinen, schlecht oder nicht belüfteten Räumen die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung durch Aerosole auch über eine Distanz von mehr als zwei Metern erhöhen könne – vor allem wenn eine infektiöse Person besonders viele Aerosole ausstosse und andere besonders tief einatmen. «Durch die Anreicherung und Verteilung der Aerosole ist unter diesen Bedingungen das Einhalten des Mindestabstandes ggf. nicht mehr ausreichend.»

Erhöhung der Produktion in der Lunge

Das Singen in geschlossenen Räumen könnte ein Beispiel dafür sein. Mehrere Fälle mit zahlreichen Infizierten in Chören sind schon dokumentiert worden. Auch Scheuch nutzt dieses Beispiel und erklärt, dass ein infizierter Sänger durch das Singen besonders viele Aerosole produziert: Weil er sehr tief einatmet, werde die Produktion in der Lunge erhöht. Und durch die Vibration der Stimmbänder erfolge zusätzlich eine Aerosol-Produktion im oberen Bereich der Atemwege. «Alle anderen Sänger atmen ja auch sehr tief ein und bieten damit den Aerosol-Viren tolle Voraussetzungen ebenfalls tief in die Lunge eindringen zu können. Peng ...», formuliert er es.

Auch eine Studie mehrerer Forschungsinstitute zu den Ursprüngen des ersten Coronavirus-Ausbruchs beim Fleischfabrikanten Tönnies im Mai kommt zu dem Schluss, «dass die Bedingungen des Zerlegebetriebs – also die niedrige Temperatur, eine geringe Frischluftzufuhr und eine konstante Luftumwälzung durch die Klimaanlage in der Halle, zusammen mit anstrengender körperlicher Arbeit – die Aerosolübertragung von Sars-CoV-2-Partikeln über grössere Entfernungen hinweg förderten».

Klompas und seine Kollegen wiederum merken an, dass sich Viren generell auch über Händeschütteln oder Türgriffe verbreiten könnten. «Die potenzielle Fähigkeit von Viren, sich in geschlossenen Umgebungen über mehrere Mechanismen weit und schnell unter eng stehenden Gruppen zu verbreiten, sollte nicht unterschätzt werden.» Zudem sei es schwierig, im Nachhinein alle potenziellen Interaktionen von Personen zu bestimmen, die vor, während oder unmittelbar nach beispielsweise einer Chorprobe aufgetreten sein können.

Keine Handschläge erlaubt? Hier sind Alternativen:

Video: watson/Knackeboul, Madeleine Sigrist, Emily Engkent

Forscher aus der Schweiz kamen nach mathematischen Berechnungen zu dem Ergebnis, dass das geschätzte Infektionsrisiko einer Person mit typischer Viruslast, die normal atmet, gering sei. «Nur wenige Menschen mit sehr hoher Viruslast stellten ein Infektionsrisiko in einer schlecht belüfteten geschlossenen Umgebung dar».

Mehrere Untersuchungen sind auch dem Schutz durch Masken noch einmal auf dem Grund gegangen. Zwar könne es mehrere Gründe für den Rückgang von Infektionen geben und Studien nur zu Masken dürften kaum möglich sein, wie Forscher aus Massachusetts schreiben. Aber dennoch gehen alle davon aus, dass es beim Eindämmen der Pandemie hilft, Mund und Nase zu bedecken – mit Effekt sowohl beim Ein- und Ausatmen. Und selbst in den Ausführungen von Klompas heisst es, medizinische Masken böten wahrscheinlich «einen gewissen Schutz» gegen Aerosole. (cma/sda/dpa)

Hier gib es mehr Aktuelles aus der Wissenschaft zum Coronavirus:

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
21 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Andre Buchheim
02.08.2020 13:16registriert November 2019
Ich glaub wir müssen uns darauf einstellen, dass dieser Virus mehrere Wege zur Infektion des Wirtes nutzen kann, Luftübertragung, Händedruck, Oberflächen usw.
Die Maske verstellt dem Virus nur einen Weg etwas. Abstand halten, kein Händeschütteln, häufiges Waschen tut sein Übriges dazu. Es ist der Komplex, der zählt, und nicht die Einzelmaßnahme.
Stellen wir uns einen Strom vor, gespeist aus vielen Zuflüssen, der droht, eine Überschwemmung anzurichten. Unsere Maßnahmen dünnen die Zuflüsse aus, um dies zu verhindern. Mehr können wir nicht tun.
Danke watson für den informativen Artikel.
264
Melden
Zum Kommentar
avatar
Rethinking
02.08.2020 13:22registriert Oktober 2018
Da kommt mir doch gleich das Büro und Sitzungszimmer in den Sinn...

Einige (verantwortungslosere) Unternehmen haben / rufen ihre Mitarbeitenden wieder aus dem Home Office zurück...
275
Melden
Zum Kommentar
21
25 Prozent aller Haselnüsse für Nutella? 15 statistische Mythen auf dem Prüfstand
Nutella ist am Wochenende 60 Jahre alt geworden und zu diesem Jubiläum kam ein spannender Mythos wieder einmal zur Sprache: Ferrero, der Grosskonzern hinter Nutella, kauft weltweit rund ein Viertel aller Haselnüsse. Doch stimmt das? Wir haben uns diesen und 14 weitere zahlenbasierte Mythen genauer angeschaut.

«Hey, hast du gewusst, dass ...» – auf diesen Ausruf folgt nicht selten eine statistische Fehlinterpretation, eine gewagte Behauptung oder einfach eine Halbwahrheit. Oftmals nicht beabsichtigt, denn wir wissen es einfach nicht besser. Prüfen wir also einige weitverbreitete «Fun Facts», «Urban Legends» und zahlenbasierte Mythen auf ihren Wahrheitsgrad!

Zur Story