Das Verhältnis von Finnland zum Nordatlantikpakt ist kompliziert. Und jenes zu Russland noch viel komplizierter. Auf diesen etwas simplen Nenner lässt sich die Diskussion bringen, die seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs in dem nordeuropäischen Land geführt wird. Obwohl die Finnen eng mit der Nato kooperieren, war ein Beitritt lange nicht mehrheitsfähig.
In Umfragen kam er bestenfalls auf 30 Prozent. Das hat sich seit dem russischen Angriff auf die Ukraine radikal geändert. Heute sind etwa 60 Prozent in dem wald- und seenreichen Land für die Nato-Mitgliedschaft. Der Reichstag in Helsinki begann am Mittwoch mit der Beratung eines Berichts der Regierung über Vorteile und Risiken eines Nato-Beitritts.
Die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Sanna Marin hält sich offiziell zurück, doch ihre Präferenz geht in Richtung Mitgliedschaft. Ihr Amtsvorgänger Alexander Stubb brachte es gegenüber dem «Guardian» auf den Punkt: «Finnland entschied sich für die Nato am 24. Februar um 5 Uhr morgens, als russische Truppen in die Ukraine eindrangen.»
Der konservative Politiker war stets ein Befürworter des Beitritts. «Wenn Russland bereit ist, seine slawischen Brüder in der Ukraine abzuschlachten, warum sollten sie das nicht auch mit Finnland machen?», begründete Stubb den Sinneswandel seiner Landsleute: «Viele Finnen sind aufgewacht und sagten: ‹Genug! Jetzt müssen wir uns der Nato anschliessen.›»
Für den Ex-Regierungschef ist dies nur noch Formsache: «Zu 99,9 Prozent wird Finnland der Nato beitreten. Es ist keine Frage von Monaten mehr, sondern von Wochen», sagte er im Interview mit dem «Spiegel». Zuvor habe es «aus historischen Gründen» einen grossen ideologischen Widerstand gegen einen Nato-Beitritt gegeben, erklärte Stubb.
Tatsächlich lässt sich die Nato-Debatte kaum nachvollziehen ohne einen Blick auf das wechselvolle Verhältnis zum grossen Nachbarn, mit dem Finnland eine mehr als 1300 Kilometer lange Grenze teilt. Obwohl die Finnen ein eigenständiges Volk mit «spezieller» Sprache sind, befanden sie sich die meiste Zeit ihrer Geschichte unter Fremdherrschaft.
Während Jahrhunderten waren sie Untertanen des schwedischen Königs. Ab dem 18. Jahrhundert übernahm das russische Zarenreich sukzessive die Kontrolle. Gleichzeitig entwickelte sich erstmals ein finnisches Nationalbewusstsein. Die Oktoberrevolution 1917 nutzten die Finnen, um sich von Russland zu lösen und ihre Unabhängigkeit zu erklären.
Sie ging einher mit heftigen Geburtswehen. Es kam zu einem kurzen, aber blutigen Bürgerkrieg, in dem die konservativen «Weissen» die «Roten» besiegten. Überwunden wurde diese Spaltung im Winterkrieg 1939/40, als das kleine Finnland von der übermächtigen Sowjetunion angegriffen wurde. Nun verteidigten sich die Feinde von einst Seite an Seite.
Ihr heldenhafter Abwehrkampf wurde zum eigentlichen Gründungsmythos der Nation. Am Ende musste Finnland einige Gebiete an Stalins Sowjetunion abtreten, darunter Karelien im Süden. Die Unabhängigkeit aber konnte bewahrt werden. Die Erfahrung des Winterkriegs ist bis heute prägend für die Beziehung zum russischen Nachbarn.
Nach dem Zweiten Weltkrieg führte dies zu jener Phase, in der Finnland offiziell neutral war, aber einen regen Austausch mit der Sowjetunion pflegte. Im deutschen Sprachraum wurde dafür der despektierliche Begriff «Finnlandisierung» verwendet, auf den die Finnen selbst ziemlich allergisch reagieren. Sie betrachten ihn als eine Art Synonym für Appeasement.
Mit dem Ende des Kalten Kriegs und dem Zerfall der Sowjetunion zeigten sich die Nachteile: Die Wirtschaft stürzte in eine schwere Krise. Auch aus diesem Grund trat Finnland 1995 der Europäischen Union bei, in die es heute vollumfänglich integriert ist. So haben die Finnen im Gegensatz zu ihren skandinavischen Nachbarn den Euro übernommen.
Mit dem Nato-Beitritt könnte der Prozess weitergeführt werden. Alexander Stubb bezeichnet ihn als «letzten Schritt unserer Verwestlichung». Militärisch wäre das Land bereit, nicht nur wegen der schon bestehenden Kooperation. Obwohl Finnland mit 5,5 Millionen Einwohnern deutlich kleiner ist als die Schweiz, leistet es sich eine der grössten Armeen Europas.
Sie verfügt über 900’000 Reservisten. Fast 300’000 Männer und Frauen lassen sich sofort mobilisieren. Der Bestand der Schweizer Armee beträgt 100’000 Soldatinnen und Soldaten. Finnland verfügt auch über modernes Kriegsmaterial. Kürzlich entschied sich die Regierung für den Kauf des F-35-Kampfjets. Die russische Bedrohung nimmt man schon lange ernst.
Nun soll der nächste Schritt folgen. Die Reaktion aus Moskau folgte prompt. Provokationen etwa durch die russische Luftwaffe ist man sich im Norden gewohnt. Nun aber drohte der frühere Präsident Dmitri Medwedew mit der Stationierung von Atomwaffen an der Ostsee für den Fall, dass Finnland und Schweden sich für den Nato-Beitritt entscheiden sollten.
Die Finnen lassen sich davon wenig beeindrucken. «Die atomare Bedrohung ist nicht neu», sagte Ex-Premier Stubb dem «Guardian». In der Exklave Kaliningrad gebe es schon heute russische Atomwaffen: «Wir erwarten mehr russische Cyberangriffe und Verletzungen des Luftraums. Aber darauf haben wir uns schon lange vorbereitet.»
Ein Fragezeichen ist höchstens die Haltung Schwedens, mit dem Finnland in militärischen Fragen zusammenarbeitet. Dort kennt man die russischen Provokationen ebenfalls, und auch bei den Schwedinnen und Schweden hat der Ukraine-Krieg zum Umdenken geführt: In einer Umfrage der Zeitung «Aftonbladet» befürworten 57 Prozent den Nato-Beitritt.
«Traditionell gab es drei ‹Vetos› gegen eine Nato-Mitgliedschaft Schwedens: die öffentliche Meinung, Finnland und die Sozialdemokraten», sagte der Militärexperte Oscar Jonsson gegenüber Euronews. Nun aber erzeuge der rapide Wandel in den beiden ersten Punkten «einen enormen Druck auf die Sozialdemokratische Partei».
Sie ist eine Art inoffizielle schwedische «Staatspartei» und lehnte den Nato-Beitritt stets ab. Mit dem Ukraine-Krieg ist auch diese Position nicht mehr unantastbar. Schweden müsse der Nato beitreten, forderte das eher linke «Aftonbaldet» in einem Leitartikel, und intern soll bei den Sozialdemokraten bereits ein entsprechender Entscheid gefällt worden sein.
Das Ziel von Ministerpräsidentin Magdalena Andersson sei es, den schwedischen Antrag auf dem Nato-Gipfel Ende Juni in Madrid einzureichen, berichtete die Zeitung «Svenska Dagbladet» letzte Woche. Das würde dem finnischen Zeitplan entsprechen, den Anderssons Amtskollegin Sanna Marin bei einem Besuch in Stockholm andeutete.
Staatspräsident Sauli Niinistö stellte einen raschen Entscheid des Parlaments in Aussicht. Er ist der populärste Politiker Finnlands und gilt gleichzeitig als westlicher Staatsmann mit dem vielleicht besten Draht zu Wladimir Putin. Im Interview mit dem «Spiegel» erinnerte er sich an eine «sehr eindeutige» Aussage des russischen Präsidenten aus dem Jahr 2016.
«Wenn wir derzeit über die Grenze schauen, sehen wir auf der anderen Seite einen Finnen. Wenn Finnland der Nato beitritt, sehen wir auf der anderen Seite einen Feind», sagte Putin gemäss Niinistö auf die Frage eines finnischen Journalisten. Trotzdem oder vielleicht deshalb scheint Finnland gewillt zu sein, den Beitritt konsequent voranzutreiben.
Diese Aussage bringt die Ängste in den skandinavischen Ländern ziemlich auf den Punkt.
In seiner geschichtlichen Auffassung könnte es Putin durchaus auch in den Sinn kommen, auch Finnland die Eigenständig abzusprechen und sie wieder in sein Reich integrieren wollen.
Das wollen die Finnen nicht und suchen die Sicherheit dafür in der NATO.
Für mich sehr verständlich.