Die letzte Chance des Westens
Alexander Stubb ist der Präsident des kleinen Finnlands, aber seine Vorstellungen haben grossen Einfluss auf das Denken über Geopolitik. Im Magazin «Foreign Affairs» hat er soeben ein Essay über die künftige Weltordnung veröffentlicht. Ein ausführliches Buch wird bald erscheinen.
Stubb spricht Klartext:
Um zu verstehen, was Stubb meint, müssen wir einen kurzen Ausflug in die Welt der Politologie machen.
Im Denken über die künftige Weltordnung gibt es zwei Schulen: die Liberalen und die Realisten. In seinem Buch «The Tragedy of Great Power Politics» hat der renommierte Politologe John Mearsheimer die beiden Denkrichtungen zusammengefasst. Er schreibt:
Realisten hingegen, so Mearsheimer weiter, sehen die Welt weit nüchterner und pessimistischer. Er schreibt:
Im Krieg in der Ukraine prallt das Denken der Liberalen und der Realisten exemplarisch aufeinander. Betrachten wir zuerst die Realisten, verkörpert im deutschen Sprachraum etwa von Personen wie dem Verleger Jakob Augstein oder dem Philosophen Richard David Precht. Sie argumentieren wie folgt:
Wladimir Putin ist kein Verrückter, wie es Adolf Hitler war. Er handelt rational im Sinne von Mearsheimer, der dieses Handeln wie folgt beschreibt: «Er kennt sein äusseres Umfeld und denkt strategisch darüber nach, wie er darin überleben kann.» Die Nato-Osterweiterung ist für Putin daher eine unmittelbare Bedrohung, die es abzuwenden gilt. Mit seiner Invasion der Ukraine will er sich dagegen schützen.
Aus der Sicht der Realisten ist der Westen mitschuldig am Krieg in der Ukraine. Indem er – wie der damalige US-Präsident George W. Bush 2008 – der Ukraine und Georgien die Möglichkeit eines Nato-Beitritts vorgaukelte, hat er auch das Sicherheitsdenken des russischen Präsidenten getriggert. Sobald diese Bedrohung wegfällt, wird Putin seine Aggressionen einstellen. Russland ist so gesehen keine Bedrohung für den Westen.
Liberale, im deutschen Sprachraum etwa der Politologe Herfried Münkler, sehen dies hingegen wie folgt:
Putin handelt nicht rational, würde er dies tun, dann wäre er niemals in die Ukraine eingefallen. Er hat in diesem Krieg nicht nur mehr als eine Million Soldaten geopfert – genaue Zahlen kennt man nicht –, er hat auch den Wohlstand seiner Bürgerinnen und Bürger auf Jahrzehnte hinaus vernichtet. Die meisten Russen leben auch heute noch in ärmlichen Verhältnissen, und das, obwohl das Land über riesige Rohstoffreserven verfügt, und der Westen noch so bereit gewesen ist, diese Rohstoffe zu guten Preisen abzukaufen.
Russland braucht keine Sicherheitszone, denn der Westen denkt niemals auch nur im Traum daran, es anzugreifen. Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass das Land sehr gross ist, und die Winter sehr kalt sind. Putins Angst um die Sicherheit seines Landes sind entweder die Ausgeburt einer paranoiden Fantasie, oder – was wahrscheinlicher ist – ein Vorwand. Er verfolgt den grössenwahnsinnigen Plan, das Russische Reich, wie es zu Zeiten von Katharina der Grossen bestanden hat, wiederherzustellen.
Den Amerikanern kann man vieles und vieles zu Recht vorwerfen. Ihnen zu unterstellen, dass sie 2014 in der Ukraine den Maidan-Aufstand angezettelt hätten, um ihre Atomwaffen näher an die russische Grenze zu verschieben, ist Unsinn. Der Maidan-Aufstand hatte wirtschaftliche Ursachen: In der Ära der Sowjetunion war der Wohlstand der Ukraine und Polen etwa auf dem gleichen Niveau. Die Polen traten nach dem Zerfall der UdSSR der EU bei, in der Folge verdoppelte sich ihr Wohlstand gegenüber der Ukraine. Der Grund für den Maidan-Aufstand lag daher in erster Linie daran, dass sich der damalige Präsident der Ukraine, Viktor Janukowitsch, im letzten Moment und auf Druck von Putin weigerte, einen bereits beschlossenen Wirtschaftsvertrag mit der EU zu unterzeichnen.
Die völlig gegensätzliche Einschätzung des Krieges in der Ukraine führt folgerichtig auch zu völlig anderen Vorschlägen, wie er endlich beendet werden kann. Dass beide den Frieden wollen, sei dabei vorausgesetzt.
Die Realisten wollen dieses Ziel erreichen, indem man mit dem rationalen Putin verhandelt, seine Sicherheitsängste ernst nimmt, und der Ukraine nicht noch mehr Waffen liefert. Das verlängert das Blutvergiessen und bringt nichts, weil Russland letztlich grösser und mächtiger ist und den Krieg deshalb gewinnen wird. Daher sollte man Donald Trump auch dankbar sein, dass er endlich einen Friedensvertrag mit Putin ausgehandelt hat und diesen Vertrag so rasch wie möglich auch umsetzen.
Eine Gefahr für den Westen sehen die Realisten nicht. Schliesslich weiss der rationale Putin, dass ihm die Nato militärisch weit überlegen und seine Armee für längere Zeit angeschlagen ist. Das fieberhafte Aufrüsten, das in der EU eingesetzt hat, ist deshalb zum Fenster hinausgeworfenes Geld. Geld, das beispielsweise in Deutschland weit besser für eine Rentenreform eingesetzt würde.
Ganz anders sehen das die Liberalen. Der Westen befindet sich bereits in einem hybriden Krieg mit Russland. Ein Teilsieg der Russen in der Ukraine würde Europa nicht Frieden bringen, es wäre bloss eine Etappe des Plans von Putin, das Schwarze Meer und die Ostsee unter seine Kontrolle zu bringen und die Machtverhältnisse wieder herzustellen, wie sie vor dem Fall des Eisernen Vorhanges geherrscht haben.
Mit anderen Worten: Putin will nicht nur die Nato-Osterweiterung wieder rückgängig machen, sondern darauf hinwirken, dass im Idealfall sowohl die Nato als auch die EU aufgelöst werden. Um diese Gefahr zu bannen und die Sicherheit der Bürger zu garantieren, muss Europa die Mängel der letzten Jahrzehnte schleunigst beheben und in Aufrüstung investieren, Schuldenbremsen hin oder her.
Am Beispiel des Krieges in der Ukraine lassen sich die unterschiedlichen Weltanschauungen von Liberalen und Realisten exemplarisch aufzeigen. Es hängt jedoch weit mehr davon ab. Es geht auch darum, ob die neue Weltordnung künftig multilateral sein wird, oder ob sie künftig willkürlich von den Grossmächten USA, China und Russland beherrscht wird und die Kleinen sich zu fügen haben.
Auch diesbezüglich gehen die Einschätzungen diametral auseinander.
Für die Realisten war die regelbasierte Welt stets eine Illusion, an die höchstens so naive Menschen wie die ehemalige deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock glaubten. In Wirklichkeit handelte es sich dabei um eine heuchlerische Vertuschung der wahren Machtverhältnisse. Ob die USA, China oder Russland, letztlich wollten und wollen alle in erster Linie ihre Interessen durchsetzen und alle anderen müssen schauen, wie sie in diesem Hauen und Stechen nicht auf der Strecke bleiben.
Für die Liberalen hingegen ist die regelbasierte Weltordnung zwar alles andere als perfekt. Sie ist, um Churchill zu paraphrasieren, jedoch die besten von allen schlechten Optionen. Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde sind in dieser Sicht nicht hohle Phrasen, sondern etwas, wofür sich zu kämpfen lohnt.
Diese Werte sind offensichtlich in Gefahr. Im vergangenen September haben sich anlässlich der Konferenz der Shanghai Cooperation Organisation in Peking Xi Jinping, Kim Jong und Wladimir Putin hingestellt und der liberalen Weltordnung den Kampf erklärt. Deren Drohungen ignoriert man auf eigene Gefahr, denn inzwischen ist hinlänglich bekannt, dass die autoritären Staaten zunehmend zusammenarbeiten, um ihre Vorstellung einer neuen Weltordnung umzusetzen.
Demgegenüber plädiert Alexander Stubb für einen liberalen, «Werte-basierten» Realismus. Darunter versteht er nicht eine naive Sicht einer regelbasierten Welt, in der alle gleich berechtigt sind. Es geht ihm vielmehr darum, die bestehenden bereits erwähnten Institutionen so zu reformieren, dass auch die Länder des Globalen Südens ihre berechtigten Anliegen einbringen können.
Viel Zeit für diese Reformen bleibt nicht. «Die nächsten fünf bis zehn Jahre werden wahrscheinlich darüber entscheiden, wie die Weltordnung für Jahrzehnte hinaus aussehen wird», stellt Stubb fest.
