Die Monate der Haft haben Jakob Leonhard keine Ruhe, und schon gar keine Einsicht gebracht. Es muss in ihm genagt haben, denn in seinen Erinnerungen hält er fest:
Doch wie soll er das angehen, jetzt wo er nach Ausbruch des Krieges aus der Armee ausgeschlossen ist? Leonhard scheint bereit dazu, jede sich bietende Möglichkeit zu ergreifen, und sei es bloss ein weiteres Abenteuer mit unsicherem Ausgang.
1941 ist es dann so weit. Es meldet sich – unter mysteriösen Umständen – der «schöne Emil», ein alter Arbeitskollege, der nach Deutschland gezogen war und zwischenzeitlich dort als strammer Nazi Karriere gemacht hat. Emil ist in geheimer Mission unterwegs. Er soll Agenten anwerben, um das Deutsche Spionagenetz in der Schweiz zu stärken.
Der ziellose und von seiner Heimat verschmähte Leonhard scheint Emil eine leichte Beute zu sein. Und so werden sich die beiden Männer an einem lauschigen Sommerabend, trotz Leonhards anfänglicher Bedenken, Landesverrat zu üben bei viel Wein und Schnaps handelseinig. Kurz darauf hält Leonhard ein Visum für Deutschland und 500 Franken in der Hand.
Der «Pakt mit dem Teufel» führt Leonhard Anfang 1942 nach Strassburg, wo er im Luxushotel Graf Zeppelin erwartet wird, wo ihm «reichlich Geld und Lebensmittelkarten» überreicht werden. Von dort geht die Fahrt mit einem gewissen Dr. Martin – seinem Führungsoffizier – weiter nach Stuttgart, wo in Anwesenheit höherer Chargen die Bedingungen, Aufgabenbereich, Gehalt und die Vereidigung auf die SS vereinbart werden. Leonhards Fazit:
Mit Aufträgen und Basler Deckadressen eingedeckt, tritt Jakob Leonhard die Rückfahrt in die Schweiz an. Wie damals üblich, wird er nach der Einreise in ein Militärbüro geführt, um Mitteilung über seine Deutschlandreise zu machen. Leonhard, der sich der Schweiz beweisen will, ergreift die Gelegenheit beim Schopf und offenbart dem anwesenden Hauptmann seine «Mission».
Noch am selben Tag wird in Zürich mit ihm vereinbart, dass er ab sofort als Informant des Nachrichtendienstes die deutschen Spionage-Aktivitäten in der Schweiz auskundschaften soll. Jakob Leonhard ist nun Doppelagent.
Von nun an laviert Leonhard zwischen seinem Schweizer Führungsoffizier und den Aufträgen, die er zunächst über einen toten Briefkasten, und bald schon auch durch seinen Mittelsmann Emil Bernauer – einen Deutschen Eisenbahner mit Dienstort Badischer Bahnhof Basel – weiterzuleiten hat. In Stuttgart schätzt man seine Arbeit und ahnt nicht, dass die Militärgeheimnisse von Agent Leo in Zürich abgesegnet werden.
Zu seinem Auftrag gehört auch, die Deutschen Spione, die in anderen Schweizer-Linien geführt werden, zu beschatten. Rasch durchschaut der gewandte Leo das Agenten-Netzwerk. Er findet Mittel und Wege, seine verborgene Schweizer Seite diskret auf dem Laufenden zu halten. Delikat, denn er selbst muss im System des gegenseitigen Misstrauens unter den Deutschen Agenten jederzeit damit rechnen «hochzugehen».
Im September 1943 wird sein Deutscher Mittelsmann und dessen Linie in Basel verhaftet. Leonhard muss zum Rapport nach Strassburg. Einen ersten Verdacht, er hätte «gepfiffen», kann er entkräften. Doch er ist angezählt. Seine nächste Fahrt über die Grenze im Januar 1944 wird ihm zum Verhängnis. Wie üblich wird seine Ankunft im «engen Kreis der Gestapo mit Wein und Austern aus Paris» gefeiert. «Doch mitten in der Nacht» – schreibt er – «fielen sie wie Bestien über mich her. Ich blutete aus Mund und Nase, mein Gesicht schwoll unförmig auf. Ich konnte kein Glied mehr rühren.»
Leonhard wird in Strassburg zur Gestapo geschleppt. «Wir beschuldigen Sie des Verrats. Wir haben auf unerklärliche Weise unsere besten Leute in der Schweiz verloren – und Sie laufen noch auf freiem Fuss herum. Wie können Sie das erklären?» Dann, erinnert sich der Doppelagent,
Die Tortur nimmt kein Ende.
In den folgenden Tagen wird Leonhard immer wieder zum Verhör vorgeführt.
Am 22. August 1944 wird Leonhard vor die Richter des Volksgerichtshofs gestellt. Die Verhandlung ist knapp. Sein «Verteidiger» schweigt. Das Urteil steht von vornherein fest: Tod durch das Beil – sofort zu vollstrecken! Leonhard versucht Zeit zu gewinnen. Zwei Mal schneidet er sich die Pulsadern auf, wird halbtot in der Zelle aufgefunden und von da an «zu seiner Sicherheit» in eine Zwangsjacke gesteckt.
Täglich ist Leonhard Ohrenzeuge der «Liquidierung» von Gefangenen. Sein Leben hängt an einem seidenen Faden. Weshalb sein Todesurteil nicht vollstreckt wurde, erfahren wir aus einer Note des Berliner Auswärtigen Amts an die Schweizerische Gesandtschaft vom 9. November 1944.
Offensichtlich hatte sich Bern einige Wochen zuvor für Leonhard eingesetzt, vermutlich im Zug eines geplanten Agentenaustauschs an dem auch die deutsche Seite ein Interesse gehabt haben muss, denn die Aufhebung des Todesurteils erfolgt innert weniger Tage. Der Doppelagent ist ein «Pfand» von Wert.
Von da an beginnt Jakob Leonhards beschwerliche Fahrt durch das in Auflösung begriffene Deutschland. Zwei Wochen ist er ungeschützt unter Fliegerangriffen unterwegs, bis der Bodensee in Sicht kommt.
Nach weiteren qualvollen Tagen im Bregenzer Verliess wird Agent Leo abgeholt und ein Büro des Gefängnisbaus geführt. «Sie sind wohl Herr Leonhard», wird er dort auf Schweizerdeutsch empfangen. «Sie wissen doch, dass Sie frei sind? Kommen Sie mit, draussen steht mein Wagen. Ich führe Sie zur Grenze.»
Jakob Leonhard hat seine Erlebnisse unter dem Titel Als Gestapo-Agent im Dienste der Schweizer Gegenspionage publiziert. Das Buch wurde ein Bestseller, denn unmittelbar nach dem Krieg ist das Interesse für Tatsachenberichte aus dem «Reich» enorm. Auch seine Ehre wird wiederhergestellt, indem seine militärische Degradierung durch Entscheid des Bundesrats rückgängig gemacht wird. Ein halbes Jahr darauf genehmigt ihm der Generalstab eine «Entschädigung von Fr. 6000.- für die in Deutschland erlittene Haft».
Ohne Zutun der Geheim-Diplomatie hätte Jakob Leonhard sein Va-Banque-Spiel mit dem Leben bezahlt. Dass er dennoch nicht zur Ruhe kommt, indem er mit dem Bund um eine verbesserte Entschädigung feilscht, lässt ahnen, dass Leo auch in Friedenszeiten doppelt lebte, was nur geht, wenn man mehrere Wahrheiten sein Eigen nennt.
Nachtrag: Leonhards Mittelsmann am Badischen Bahnhof, der Deutsche Emil Bernauer, wurde zu 20 Jahren Zuchthaus mit anschliessender Landesverweisung verurteilt. Dessen «fleissigster Informant», der Schweizer Samuel Plüss, wurde vor Militärgericht gestellt und wegen Landesverrats zum Tod durch Erschiessen verurteilt. Das Urteil wurde vollstreckt.
Verpfiffen wurde Agent Leo übrigens von der Ehefrau Bernauers. Die fuhr 1943 zur Gestapo nach Strassburg und hat ihn aus Rache für die angebliche Denunzierung ihres Ehemanns ans Messer geliefert. Alma Gysin wurde deswegen 1945 in Basel zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Trotz ihrer Schweizer Herkunft durfte sie nach Verbüssung der Haftstrafe erst nach zwölf Jahren Landesverweisung in ihre Heimatstadt zurückkehren.