Ein Fehler, heisst es, kann ein Menschenleben vernichten. Oder mehrere. Oder einen ganzen Krieg auslösen. Weshalb die «Cleaner», die Facebook-Reiniger in Manila, keine Fehler machen dürfen. Oder fast keine. Ganze drei sind pro Monat gestattet. Ein Cleaner sichtet pro Tag 25'000 Facebook-Bilder. Entscheidet über «Ignore» und «Delete». Oft ist davon die Rede, dass sie «die Plattform» von «Sünden» befreien müssen.
Die Frauen und Männer, die auf den Philippinen für Facebook die Aufgabe einer virtuellen Kläranlage übernehmen, sind oft schlecht ausgebildet, streng katholisch und politisch ganz auf der Linie ihres Präsidenten, der Hitler toll findet. Ihrem Arbeitgeber gehorchen sie bis aufs letzte Komma.
Auch die Menschenjagd auf die Rohingya darf gezeigt werden, gern sogar, schliesslich geht es im Internet immer um die Ökonomie der Aufmerksamkeit, darum, Quote zu machen und diese hoch zu halten. Und Empörung und Gewalt erzeugen die grösste Aufmerksamkeit, erklärt ein ehemaliger Google-Ethiker im Dokfilm «The Cleaners» von Hans Block und Moritz Riesewieck. Erst mit der Verbreitung von Hass-Videos seien die Rohingya zur «meist verfolgten Minderheit der Welt» geworden.
Nacktfotos dagegen gehen nie, sagt eine junge Reinigungskraft, da heisst es immer Delete, egal ob Porno oder Kunst. Sie musste erst lernen, was es heisst, wenn irgendwo von «Pussy», «Tits» oder «Butt plugs» die Rede ist. Nach Feierabend schaute sie Pornos, um zu verstehen, wogegen sie eigentlich arbeitet. «Nachts träumte ich von Penissen in allen Grössen und Farben.»
Eine andere zeigt das Bild eines Enthaupteten. Sein Kopf liegt auf seinem Bauch. «Wenn sie Glück haben», sagt die Frau, «ist die Klinge richtig scharf. Das schlimmste sind kleine Messer, ähnlich einem Küchenmesser. Da dauert es eine ganze Minute, bis der Kopf abgetrennt ist.» Sie hat das in Dutzenden von Videos studieren können. Der Enthauptete im Bild wurde ganz klar mit einem kleinen Messer getötet, der Kopf wirkt richtiggehend abgesäbelt.
Die Cleaner müssen 37 Terrororganisationen daran hindern, auf Facebook Propaganda zu machen. Lieber löschen sie zu viel als zu wenig. Anderswo speichern unterdessen Menschenrechtsorganisationen im Sekundentakt die Bilder, die in Manila gelöscht werden. Oft handelt es sich um wichtiges Beweismaterial. Und ebenso oft schliessen sich Regierungen mit Firmen wie Google oder Facebook kurz. Verlangen Zensur durch Geoblocking. Die Türkei ist dabei am radikalsten. Was dort noch an Informationen abrufbar ist, hat nichts mehr mit einer demokratischen Gesellschaftsform zu tun.
Auch Shen Man und Big Li sind einsam und depressiv. Obwohl sie nichts anderes tun, als sich andern mitzuteilen. Sie sind Live-Stream-Hosts auf der chinesischen Plattform YY.com. Eigentlich ein Spass. Sie machen den ganzen Tag über nichts Anderes, als vor der Kamera Sprüche zu klopfen, zu singen, ihre Fans zu animieren. In einer Blase aus Rosa und Geschrei.
Die Fans bilden zwei Gruppen, die Armen und die Reichen und sind auf YY.com gut sichtbar. Die Reichen sponsern Shen Man und Big Li mit fetten Beträgen. Wenn sie das tun, bedanken sich die Hosts bei ihnen und die Armen applaudieren und schenken ihnen sowas wie Liebe und Adelstitel, nennen sie «Graf» oder «König».
Weder Hosts noch Sponsoren oder Claqeure zeigen irgendeine Art der analytischen oder kritischen Sensibilität. Es ist, wie's ist. «People's Republic of Desire» heisst der bestürzende Film von Hao Wu über die totale Gameification des Alltags.
Shen Man ist für die Armen eine «Göttin», besser als jedes Mädchen, das sie kriegen können, für die Reichen der hübsche Hintergrund ihrer kapitalistischen Selbstdarstellung. Shen Man wird bald 22. Das ist ein Problem, findet ihr Vater, der wie ihre ganze Familie arbeitslos ist und sich von ihr aushalten lässt, denn bei 22 saust die Altersguillotine nieder. «Ich frage mich, wie sie in der realen Welt die Familie ernähren will», sagt der Vater und denkt nicht daran, selbst nach Arbeit zu suchen. Shen Mans Witze werden derber: «Meine Brüste wachsen wie der Immobilienmarkt in China.» Big Li dagegen sehnt sich nach seinem alten Job als Bauarbeiter zurück. Hinter den beiden stehen Talent-Agenturen, sie erhalten 20 Prozent der Einnahmen.
Und als wären die überforderten Cleaner aus Manila und die ausgelaugten Influencer aus China noch nicht genug Netzpessimismus, ist da auch noch «Netizens», der Dokfilm von Cynthia Lowen über Frauen, die von ihren Ex-Männern gestalkt und zerstört werden oder deren Vergewaltigung sich plötzlich als Video im Internet befindet.
Da ist zum Beispiel der Fall einer 13-Jährigen, die in New York von einem Gleichaltrigen vergewaltigt und gefilmt wird. Analer und oraler Verkehr sind auf dem Video zu sehen. Als es auf dem Pausenplatz rumgezeigt wird, bittet die Schulleitung das Mädchen, die Schule zu wechseln. Zwei weitere Fälle geschehen, immer werden die Mädchen genötigt, die Schule zu verlassen.
Und da ist eine ehemalige Wall-Street-Bankerin, deren Ex nach der Trennung mehrere Webseiten hochzog, auf der sie als Prostituierte diffamiert wurde. Jahrelang fand sie deswegen keinen Job, die rechtliche Handhabe ist schwierig, der Angeklagte kann immer mit dem Recht auf freie Meinungsäusserung argumentieren. Die Anwältin Carrie Goldberg, die selbst von ihrem Ex gehackt wurde und tausende von Drohungen wie «ich hoffe, dass deine nächste Vergewaltigung deine letzte ist» erhielt, hat sich auf Revenge Porn und Online Harassment spezialisiert. Ihre Kanzlei platzt aus allen Nähten, ständig muss sie vergrössern.
Der Hass, der Frauen entgegenquillt, ist riesig, irr und vermag in die letzte Ritze einer Existenz zu dringen, die Formen der virtuellen Vergewaltigung sind schockierend vielfältig, ebenso die Möglichkeiten, sich eine Identität anzueignen und sie zerstören.
Es sind drei Filme von der dunkelsten Seite des Planeten Internet. Danach will man Verschiedenes: Sich übergeben, Facebook aufgeben, am liebsten jeder Art von Blase für immer fernbleiben. Die grosse Freiheit ist auch ein grosses Gefängnis. Nur sind seine Mauern aus Glas und seine Gitterstäbe stehen so weit voneinander entfernt, dass Eindringen – in Form von Bildern oder personalisierten Attacken – einzig eine Frage von Anstand ist.
«The Cleaners» am ZFF: 4. Oktober, 18.45 Uhr, Filmpodium.
«People's Republic of Desire» am ZFF: 4. Oktober, 19.15 Uhr, Corso 3.
«Netizens» am ZFF: 6. Oktober, 14.30 Uhr, Corso 3.