Dass er nicht mehr antrete, sei wohl keine grosse Überraschung. Überraschender sei eher, dass der Rücktritt bereits per Ende der Wintersession erfolgt, sagt Rechsteiner. Als Grund für den kurzfristigen Abgang gibt der St. Galler unter anderem an, dass dieser zu einer Einer-Vakanz führt. Dadurch gäbe es vor den eidgenössischen Wahlen im Herbst eine separate Ersatz-Wahl, die weniger parteipolitisch geprägt sei.
Das Polit-Urgestein hat keinen Nachfolge-Favoriten, sagt Rechsteiner dem «St. Galler Tagblatt». Es sei schlussendlich ein Parteientscheid. Die bisherige Kombination aus ehemaligem Nationalrats- und Regierungsmitglied habe aber gut funktioniert.
Mitte-Politiker Benedikt Würth stellt momentan das ehemalige Ratsmitglied. Möchte man die Formel weiter anwenden und in der SP bleiben, so sind die möglichen Nationalrätinnen Barbara Gysi und Claudia Friedl.
Der aus einer Arbeiterfamilie stammende Rechsteiner möchte nach seinem Rücktritt weiterhin politisch aktiv bleiben – bloss ohne Parlamentsmandat. Auch möchte er seinen angestammten Beruf weiter ausführen: «Ich bin auch weiterhin als Anwalt tätig mit ausgewählten Mandaten im Straf- und Arbeitsrecht.» Rechsteiner hatte den Beruf niemals abgelegt, um sich seine finanzielle Freiheit zu wahren, und weil er sich nie vorgestellt hatte, ein Leben lang Politik zu treiben.
Paul Rechsteiner begann seine parlamentarische Laufbahn 1977 im St. Galler Stadtparlament. Von 1984 bis 1986 vertrat der die SP im Kantonsrat; ab 1986 vertrat er St. Gallen im Nationalrat. In den ersten Jahren im Nationalrat waren Fragen der Rechtsetzung und der sozialen Sicherheit zentral. Mit der Wahl in den Ständerat kam ab 2011 als Schwerpunkt die Interessen der Ostschweizer hinzu. Der SP-Kandidat, der eigentlich das Rampenlicht scheute, eroberte den Sitz von der CVP. Auch SVP-Schwergewicht Toni Brunner konnte nichts daran ändern.
Die seriöse und nüchterne Art von Rechsteiner überzeugte die Wählerinnen und Wähler bis tief in das bürgerliche Lager. Der Wahlkampfschwerpunkt «Gute Renten, gute Löhne» und ein intensiver Strassenwahlkampf sorgten für viel Bewegung im konservativen Landkanton.
Trotz seiner politischen Prinzipien war Paul Rechsteiner immer wieder für Überraschungen gut. In der kleinen Kammer verstand er es, mit der St. Galler FDP-Vertreterin Karin Keller-Sutter zusammenarbeiten und für den Kanton St. Gallen Erfolge zu verbuchen, etwa beim Bahnausbau im Rheintal.
Paul Rechsteiner wurde 1998 Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB), den er während 20 Jahren entscheidend prägte. Die Verteidigung der Interessen der Lohnabhängigen und Rentnerinnen und Rentner lag ihm immer besonders am Herzen. «Es gibt immer noch viele Leute, die angewiesen sind auf einen funktionierenden Sozialstaat», sagte er in einem TV-Interview zum seinem 70. Geburtstag.
Zur Gewerkschaftspolitik kam er durch seinen Beruf. Der St. Galler, der in Fribourg in nur vier Jahren sein Jus-Studium absolvierte, arbeitet seit 1980 als selbständiger Rechtsanwalt. Rechsteiner war Vertrauensanwalt verschiedener Gewerkschaften und führte Pilotprozesse im Arbeitsrecht und in Lohngleichheitsfragen. Noch immer vertritt der 70-Jährige vor Gericht als Strafverteidiger sozial Schwächere. (cpf)