Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre war die AC Milan dank seinem niederländischen Dreizack mit Ruud Gullit, Marco van Basten und Frank Rijkaard das Mass aller Dinge in Fussball-Europa. Auch im neuen Jahrtausend gehörten die «Rossoneri» noch zu den absoluten Topklubs. 2003 und 2007 gewann man die Champions League, 2004 und 2011 den Scudetto.
Doch danach begann die grosse Talfahrt: In der Serie A hinkte Milan der Konkurrenz trotz teils grosser Investitionen meilenweit hinterher und auch international konnte man nichts mehr reissen. Seit 2014 hat es der siebenfache Champions-League-Sieger nicht mehr in die Königklasse geschafft.
Doch ausgerechnet im schwierigen Corona-Jahr 2020 ist die Hoffnung beim italienischen Traditionsverein zurückgekehrt. Nach guten Ansätzen in der Rückrunde der letzten Saison taucht Milan in der aktuellen Serie-A-Spielzeit dank acht Siegen und zwei Unentschieden in den ersten 10 Runden plötzlich wieder ganz vorne auf. Und auch in der Europa League, für die man sich nach einem Penalty-Drama mit Ach und Krach qualifiziert hatte, steht man vorzeitig in der K.o.-Runde.
Von der grauen Mittelfeld-Maus zum gloriosen Titelanwärter in nicht mal einem Jahr – wie ist so etwas möglich? Wir nennen vier Gründe für den überraschend rasanten Aufschwung der «Rossoneri».
Seit der letzten Champions-League-Teilnahme 2014 besetzte Milan den Trainerposten immer wieder mit jungen, unerfahreren Trainern. So durften sich bei den «Rossoneri» neben Vereinsikonen wie Clarence Seedorf, Filippo Inzaghi und Gennaro Gattuso auch Sinisa Mihajlovic und Vincenzo Montella versuchen.
Danach setzte der neue Technische Direktor Paolo Maldini wieder auf erfahrenere Kräfte. Bei Marco Giampaolo, der nach 111 Tagen bereits wieder entlassen wurde, griff die Klublegende zwar daneben, mit dessen Nachfolger Stefano Pioli traf Maldini aber ins Schwarze. Der 55-jährige Italiener gilt als besonnener und ruhiger Arbeiter, die «Gazzetta dello Sport» beschrieb ihn nach dem Re-Start in Anlehnung an Klopp als einen «Normal One».
Pioli blieb auch die Ruhe selbst, als im Sommer kurzzeitig das Gerücht die Runde machte, Leipzig- und Hoffenheim-Macher Ralf Rangnick werde in Mailand Trainer und Sportchef in Personalunion. Er konzentrierte sich auf seine Aufgabe und stabilisierte bei den «Rossoneri» zunächst die anfällige Abwehr. Schliesslich sorgte Pioli mit feinen taktischen Anpassungen in der Offensive – beispielsweise einem flexibleren Spiel über die Flügel – dafür, dass mit dem Toreschiessen auch die grösste Schwäche bald ausgemerzt war.
Der Erfolg kann sich sehen lassen: In seinen ersten 50 Pflichtspielen hat der neue Milan-Trainer im Schnitt 2,06 Punkte geholt. Damit ist Pioli noch vor Arrigo Sacchi, Fabio Capello und Carlo Ancelotti der erfolgreichste Milan-Trainer (mit mehr als 13 Spielen) seit den 1970er-Jahren und der Ära von Maldini-Papa Cesare. Kein Wunder, wurde der Vertrag im Sommer bis 2022 verlängert.
Nach einem kurzen chinesischen Besitzer-Intermezzo übernahm die US-Investmentgesellschaft Elliott Management Corporation 2018 die AC Milan. Der eingesetzte Geschäftsführer Ivan Gazidis merkte schnell, warum der Klub in finanzielle Nöte geraten war. «Das gesamte Geld, das wir damals verloren haben, war hauptsächlich Spielergehältern und Transfergebühren geschuldet», erklärte er in diesem Herbst gegenüber «The Athletic».
Mit der zweithöchsten Lohnsumme der Serie A schaffte man es gerade noch auf den sechsten Platz – unakzeptabel für Gazidis. Der 56-jährige Südafrikaner stellte deshalb die Transfer-Strategie komplett auf den Kopfund holte mit Maldini (Technischer Direktor), Frederic Massara (Sportchef), Hendrik Almstadt (Head of Football) und Geoffrey Moncada (Chefscout) ausgewiesene Experten mit ins Boot.
Statt auf teure Superstars versuchte man das Augenmerk vermehrt auf junge Talente und Spieler mit Erfahrung zu setzen, die zu Milans neuer, modernen Auffassung von Fussball passen und nicht allzu viel kosten: Der 31-jährige Abwehrchef Simon Kjaer kam in diesem Sommer für 3,5 Millionen vom FC Sevilla, das 20-jährige Supertalent Sandro Tonali leihweise mit Kaufoption von Absteiger Brescia Calcio.
Doch nicht nur sie, auch Real-Leihspieler Brahim Diaz, Mittelfeld-Abräumer Rade Krunic oder die Sturmtalente Jens Petter Hauge und Alexis Saelemaekers haben sich bislang als Glücksgriffe erwiesen. Aus dem eigenen Nachwuchs drängen sich Lorenzo Colombo und Daniel Maldini, Paolos 19-jähriger Sohn und Cesares Enkel, immer mehr auf. Die neue Transfer-Strategie von Milan ist zwar nicht so spektakulär wie diejenige von Stadtrivale Inter oder Juventus, doch am Ende zählt ohnehin nur, ob sie aufgeht oder nicht. Und im Moment geht sie auf.
Einen eigenen Punkt hat der Transfer von Zlatan Ibrahimovic verdient. Der mittlerweile 39-jährige Schwede kam im letzten Winter von LA Galaxy aus der MLS. Milan wurde für die Rückhol-Aktion des exzentrischen Superstar nicht von wenigen etwas belächelt, doch Ibrahimovic war für die talentierte Truppe das Pünktchen aufs i.
Neben viel individueller Klasse und Erfahrung bringt der Torjäger auch weitere wichtige Dinge für eine Mannschaft mit – allen voran die richtige Einstellung zum Beruf und einen absoluten Siegeswillen. «Er will nie verlieren, auch nicht beim Kartenspielen», lobt Paolo Maldini seinen Teamleader. «Wettbewerbsfähigkeit im Training ist eins der wichtigsten Dinge und daran ist Zlatan ein Meister. Seine Rückkehr hat unser Level definitiv gehoben.»
Mit 11 Treffern aus 10 Spielen ist Ibrahimovic Topskorer der Mannschaft und es wäre durchaus noch mehr möglich gewesen. Wegen einer Corona-Infektion verpasste Zlatan einige Spiele, ausserdem patzte er in dieser Saison bereits dreimal vom Elfmeterpunkt. Zuletzt liess er deshalb Teamkollege Frank Kessie den Vortritt – ein Beispiel dafür, dass der als Egoist verschriene Schwede durchaus bereit ist, sich voll und ganz in den Dienst der Mannschaft zu stellen.
Sein Vertrag läuft noch bis im nächsten Sommer, doch Ibrahimovic würde gerne ein weiteres Jahr anhängen. Momentan laufen die Verhandlungen. «Ich bin wie Benjamin Button, ich werde nicht älter, sondern immer jünger», sagte er schon bei seiner Comeback-Ankündigung.
Dank seinen Sprüchen und Toren ist Ibrahimovic längst wieder das Gesicht der AC Milan geworden. Das hilft auch seinen jungen Teamkollegen: Da der Superstar einen Grossteil der medialen Aufmerksamkeit absorbiert, können sie sich ohne Druck in aller Ruhe auf das Wesentliche konzentrieren. So hat sich beispielswese Ante Rebic auf dem linken Flügel vom Transferflop zum absoluten Leistungsträger entwickelt.
Dass Milan im Moment ganz oben steht, hat aber nicht nur mit den eigenen Leistungen, sondern auch mit denjenigen der Konkurrenz zu tun. Allen voran Serienmeister Juventus Turin und Stadtrivale Inter, die vor der Saison höher eingeschätzt wurden, bringen derzeit nicht die nötige Konstanz mit. Bei Inter könnte das durchaus mit der Teilnahme am Europa-League-Finalturnier zusammenhängen, wodurch die ohnehin kurze Sommerpause noch kürzer wurde.
Bei Serienmeister Juventus hat sich die Mannschaft dageen noch nicht an das neue System von Trainer Andrea Pirlo gewöhnen können. Der Weltmeister von 2006, der bei Juve seine erste Trainerstation hat, träumt von einem «flüssigen» Fussball, bei dem sein Team während des Spiels ständig vom einen System ins andere wechselt.
Damit sind allerdings viele Spieler überfordert und so setzt es immer wieder Enttäuschungen wie zuletzt ein 1:1 gegen Benevento ab. Zwar ist man in der Liga noch immer ungeschlagen, vor einem Jahr hatte man unter Trainer Maurizio Sarri nach zehn Spieltagen allerdings sechs Punkte mehr eingefahren. Genau so viele Zähler liegt man jetzt hinter Leader Milan.
Weil Zlatan! :D