Frankreichs kürzlich wiedergewählter Präsident Emmanuel Macron hat bei der Parlamentswahl mit seinem Mitte-Lager die absolute Mehrheit klar verfehlt. In der Endrunde der Wahl zur Nationalversammlung am Sonntag kamen die Liberalen nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis auf 245 der 577 Sitze, wie das Innenministerium in Paris am frühen Montagmorgen nach Auszählung aller Stimmen mitteilte. Das neue linke Bündnis angeführt von Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon erzielte 131 Sitze im Parlament und wird damit stärkste Oppositionskraft. Für die absolute Mehrheit wurden mindestens 289 Sitze benötigt.
Das Ergebnis ist ein schwerer Schlag für Macron, dessen Lager derzeit noch die absolute Mehrheit im Parlament hat. Denn normalerweise wird die kurz nach der Präsidentschaftswahl abgehaltene Parlamentswahl als Bestätigung gesehen, so dass oft die gleiche politische Kraft mit absoluter Mehrheit siegt. Einen enormen Erfolg verbuchen hingegen das neue Linksbündnis, das damit als mächtigste Oppositionsgruppe mehr Einfluss erhält.
Zu den grossen Verlierern gehört auch Umweltministerin Amélie de Montchalin. Die Ressortchefin, die für das Lager von Präsident Emmanuel Macron angetreten war, verlor ihren Wahlkreis im Département Essonne im Pariser Grossraum, wie sie am Abend bestätigte. Sie werde der neuen Regierung nicht mehr angehören, sagte sie.
Vor der Wahl hatte es geheissen, dass Ministerinnen und Minister ihre Posten räumen müssten, falls sie in ihren Wahlkreisen scheitern sollten. Der Vertreter des Linksbündnisses Nupes, Jérôme Guedj, setzte sich gegen die Ressortchefin durch.
Die in der Schweiz lebenden Franzosen wird im Parlament neu der Pariser Ökonom Marc Ferracci vertreten. Der Freund und Trauzeuge von Präsident Emmanuel Macron schlug seine Rivalin Magali Mangin vom Linksbündnis mit fast 65 Prozent der Stimmen deutlich.
Dies ging aus Angaben des französischen Konsulats auf dem Kurznachrichtendienst Twitter hervor. Der Kandidat der «Renaissance»-Partei von Macron bedankte sich am Sonntagabend ebenfalls auf Twitter bei den Wählenden. Er nehme aber das Resultat angesichts des nationalen Ergebnisses auch mit Ernst entgegen, schrieb er, nachdem das Lager des Präsidenten die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung verloren hatte.
Je remercie les électeurs français de Suisse et du Liechtenstein qui m’ont élu en m’accordant près de 65% des suffrages.
— Marc Ferracci (@FerracciMarc) June 19, 2022
Cette confiance m’honore et m’engage à répondre à leurs attentes. Je la reçois également avec gravité, compte tenu des résultats nationaux. pic.twitter.com/h6pB3xoFvR
In der Schweiz und in Liechtenstein leben über 148’000 wahlberechtigte Französinnen und Franzosen. Sie verfügen in der 577-köpfigen Nationalversammlung über einen eigenen Sitz.
Der 44-jährige Wirtschaftsprofessor Ferracci ist ein enger Vertrauter von Emmanuel Macron. Beide studierten zusammen und waren gegenseitig Trauzeugen. In der Schweiz gelebt hat Ferracci bislang allerdings nie, was ihm im Wahlkampf Kritik eingebracht hatte.
Er entgegnete, er habe der Wählerschaft genau zugehört, um deren Anliegen zu erfahren. Er hatte zudem verlauten lassen, er kenne die Schweiz von Ferien und Konferenzen her, und er sei im Wahlkampf mehrere Wochen lang durch die Schweiz getourt.
Starken Zuwachs erzielte die rechtsnationale Partei Rassemblement National, deren Spitzenkandidatin Marine Le Pen in der Endrunde der Präsidentschaftswahl Macron unterlegen war. Sie kam auf 89 Sitze, gut elf Mal so viel wie bisher, und wird damit drittstärkste Kraft im Parlament.
«Das ist ein Tsunami», sagte Parteipräsident Jordan Bardella am Sonntagabend im Sender TF1. Das französische Volk habe Staatschef Emmanuel Macron zu einem Minderheits-Präsidenten gemacht, fügte Bardella hinzu.
«Das Volk hat sich ausgesprochen, es schickt eine sehr starke Gruppe des Rassemblement National in die Nationalversammlung», sagte Le Pen. Das Ziel sei, Macron in eine Minderheit zu zwingen und im Parlament entschlossen Opposition zu betreiben gegen Macron sowie das linke Bündnis angeführt von Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon.
Die bisher stärkste Oppositionskraft im Parlament und traditionelle Volkspartei der Republikaner plus Verbündete kamen auf nur noch 74 Sitze, ein kräftiger Verlust. Die Wahlbeteiligung erreichte mit 46,23 Prozent auf einem Tiefpunkt.
Bei der Parlamentswahl ging es für Macron darum, ob er seine Vorhaben auch in seiner zweiten Amtszeit wird umsetzen können. Dafür benötigt er eine Mehrheit im Parlament. Mit einer nun nur noch relativen Mehrheit sind Präsident und Regierung gezwungen, Unterstützung aus den anderen Lagern zu suchen. So eine Regierung gab es zuletzt unter François Mitterrand (1988-1991).
Entsprechend gross ist die Sorge, dass es in der Nationalversammlung nun zu Blockaden kommt. Ein Fernsehkommentator stellte die Frage, ob Frankreich sich mit dem deutschen System von Koalitionen anfreunden müsse, um auch ohne absolute Mehrheiten über eine stabile Regierung zu verfügen. Dass die Franzosen dem Präsidenten die Parlamentsmehrheit verweigert haben, wird als wahres Erdbeben gesehen. Wie es nun konkret weitergeht, war am Abend offen. Macron äusserte sich wie schon nach der ersten Wahlrunde selbst nicht.
Auch wenn viele Franzosen unzufrieden mit Macrons erster Amtszeit waren, profitierte der 44-Jährige davon, dass die Parlamentswahl in Frankreich als Bestätigung der Präsidentschaftswahl empfunden wird. So nehmen traditionell vor allem Unterstützer des Gewinners an der Abstimmung teil, andere bleiben häufig zu Hause.
Aufgrund der fehlenden absoluten Mehrheit will sich Premierministerin Élisabeth Borne um eine mögliche Koalition bemühen. «Als zentrale Kraft in der Nationalversammlung müssen wir eine besondere Verantwortung übernehmen. Wir werden ab morgen daran arbeiten, eine handlungsfähige Mehrheit aufzubauen», sagte Borne am Sonntagabend in Paris. «Wir haben alles, was wir brauchen, um erfolgreich zu sein, und wir werden es gemeinsam schaffen.» Borne stand lange den Sozialisten nahe und hatte sich 2017 der von dem Liberalen Macron neugegründeten Partei La République en Marche angeschlossen.
«Heute abend haben wir eine neuartige Situation», sagte Borne. Diese Lage sei ein Risiko für das Land angesichts der Herausforderungen im Inland und international. Aber das Ergebnis müsse man respektieren und mit Verantwortung handeln. «Die Franzosen rufen uns auf, uns im Interesse des Landes zu einen.»
Zugleich benannte die Premierministerin Prioritäten der künftigen Regierung. Ab dem Sommer solle es starke und konkrete Massnahmen zur Stärkung der Kaufkraft der Franzosen geben. Das Streben nach Vollbeschäftigung sowie der ökologische Wandel ständen oben an, das Schul- und Gesundheitswesen müssten verbessert werden. Weitere Prioritäten seien die Souveränität Frankreichs im Energiesektor und dem Lebensmittelbereich. «Ich vertraue in unser Land», sagte die Premierministerin.
In Frankreich warten wichtige Projekte auf die Umsetzung: Angemahnt werden Verbesserungen im Bildungs- und Gesundheitswesen, die Menschen warten auf Kaufkrafthilfen in der Krise und viele wollen energischere Schritte in der Klimakrise. Ausserdem will Macron eine umstrittene Rentenreform durchziehen, die Franzosen sollen länger arbeiten.
Trotz nur noch relativer Mehrheit für das Macron-Lager wird Europa zudem auch künftig mit einem verlässlichen Partner Frankreich rechnen können. Auch wird Frankreich im Ukraine-Konflikt zweifelsohne fester Bestandteil der geschlossenen Front des Westens gegen den Aggressor Russland bleiben.
Die Wahl war auch ein Fernduell zwischen zwei sehr unterschiedlichen politischen Charakteren. Auf der einen Seite der 44-jährige eloquente Präsident und Ex-Investmentbanker Macron. Auf dem internationalen Parkett agiert er als souveräner Staatslenker, auf nationaler Ebene kämpft er jedoch mit einem Image als arroganter Elitepolitiker. Ihm gegenüber stand das linke Urgestein Mélenchon, ein gewiefter Linksideologe und Stratege, der sich als Fürsprecher des Volks und der sozialen Gerechtigkeit sieht.
Nach der Endrunde griff er Macron und dessen Lager scharf an: «Das ist ein totales Debakel der Präsidentenpartei», sagte Mélenchon am Sonntagabend in Paris. Mélenchon sprach auch von einer «Wahlniederlage des Macronismus». Er erneuerte den Anspruch des von ihm geführten Linksbündnisses, das Land regieren zu wollen. «Alle Möglichkeiten sind in eurer Hand», rief er vor jubelnden Anhängern. (saw/sda/dpa)