International
Frankreich

Parlamentswahl in Frankreich: Macron droht am Sonntag ein Debakel

Parlamentswahl in Frankreich: Warum Emmanuel Macron am Sonntag ein Debakel droht

Vor der Parlamentswahl muss Präsident Macron um die absolute Mehrheit bangen. Zwar wird sein Mitte-Lager wohl stärkste Kraft bleiben. Doch er könnte die Macht teilen müssen. Für ihn wäre das eine Katastrophe.
19.06.2022, 04:44
Mehr «International»
Ein Artikel von
t-online

Es ist ein staatsmännisch in Szene gesetzter Auftritt von Präsident Emmanuel Macron. Und seine Botschaft klingt dramatisch: Chaos drohe in Frankreich, wenn er am Sonntag bei der Parlamentswahl keine solide Mehrheit bekomme.

Eine solche sei «im übergeordneten Interesse der Nation», betont Macron auf dem Rollfeld des Pariser Flughafens Orly, während im Hintergrund bereits die Motoren des Präsidenten-Airbus brummen. Vor dem Abflug Richtung Ukraine richtete Macron am Dienstag einen dringenden Appell an die Bevölkerung.

epa10019651 French President Emmanuel Macron (R) and French Prime Minister Elisabeth Borne attend a ceremony marking the 82nd anniversary of late French General Charles de Gaulle's resistance cal ...
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron: Er muss um die absolute Mehrheit bangen.Bild: keystone

Die Franzosen haben seinem Mitte-Lager nämlich bei der ersten Wahlrunde in so grossem Umfang die Stimme verweigert, dass die absolute Mehrheit des Präsidenten im Parlament ernsthaft in Gefahr ist. Kaum Zweifel gibt es, dass der Ende April für eine zweite Amtszeit wiedergewählte Liberale mit einer relativen Mehrheit weiterregieren kann. Aber auch das ist Macron ein Gräuel. Stillstand und Blockaden drohten dann, dramatisiert er den Umstand, Macht vielleicht teilen zu müssen.

Kampf um die absolute Mehrheit

Denn das ist der Unterschied zu Deutschland: Kompromisse und Koalitionen sind in der französischen Politik wenig gebräuchlich. Die Parlamentswahl kurz nach der Präsidentschaftswahl ist eigentlich dafür konzipiert, dem Staatschef eine absolute Mehrheit zu sichern. Sollten die Stimmen am Ende nur für eine relative Mehrheit reichen, wären Macron und seine Regierung gezwungen, Unterstützung anderer Lager zu suchen. Routine in Deutschland, Rarität in Frankreich. Dort gab es eine solche Regierung nur mit relativer Mehrheit zuletzt unter François Mitterrand (1988-1991).

In die unbequeme Position bugsiert hat Macron der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon. Bei der Präsidentenwahl, bei der er als Drittplatzierter ausschied, hatte der 70-Jährige schon viele Gegner und vom dynamisch-eloquent agierenden Macron Enttäuschte hinter sich versammelt. Im Anschluss einte er die zersplitterte Linke in Rekordzeit zu einem neuen Linksbündnis und rief: «Wählt mich zum Premierminister.» Ein Coup und Propagandastreich, der das Linksbündnis im ersten Wahlgang prozentual praktisch auf gleiches Niveau wie das Macron-Lager katapultierte. Das starke Abschneiden des Linksbündnisses trieb Macron nun zu seinem Appell.

Hard-left leader Jean-Luc Melenchon delivers a speech at his election night headquarters after the first round of the parliamentary election Sunday, June 12, 2022 in Paris. Projections show French Pre ...
Jean-Luc Melénchon, Linkspolitiker und Drittplatzierter bei der Präsidentschaftswahl: «Das Chaos, das ist Macron.»Bild: keystone

Dreimal kam es in den vergangenen Jahrzehnten sogar vor, dass dem Präsidenten mangels Mehrheit im Parlament ein Premierminister aus gegnerischem Lager gegenübersass. Das ist die Situation, die Mélenchon anstrebt und die in Frankreich als Kohabitation bezeichnet wird. Die Umfragen geben bisher aber nicht her, dass es so weit kommt.

Darum geht es den Franzosen

«Das Chaos, das ist Macron», hält Mélenchon im Interview mit der Zeitung «Le Parisien» dem Präsidenten und seinem alarmistischen Auftritt entgegen. Er verspricht eine «Reparlamentarisierung des politischen Lebens». Davon profitieren könnte nicht nur die Opposition, sondern auch das Regierungslager mit seinen verschiedenen Gruppierungen, analysierte die Zeitung «Le Monde».

Macrons Sorge aber sei, dass mit Linkspolitikern in sensiblen Positionen wie dem Vorsitz des Haushaltsausschusses permanent medial inszenierte Schaukämpfe drohten. «Man wird einen neuen Modus Vivendi im Parlament erfinden müssen», sagte der Soziologe Étienne Ollion der Zeitung.

«Die Abwesenheit der Parteien und der parlamentarischen Kultur im politischen Leben in Frankreich kann in der Tat zu einer Situation der Unregierbarkeit führen, die darin mündet, dass autoritäre Vorschläge favorisiert werden», sagte der Generaldirektor des Thinktanks Fondapol, Dominique Reynié, zu «Le Monde». Die beispiellose Personalisierung der Parlamentswahl mit Mélenchon verheisse auch keinen schnellen Wandel, sagte Verfassungsrechtlerin Marie-Anne Cohendet. «Das ist erneut ein Zeichen der Personalisierung von Macht, die das politische Leben in Frankreich vergiftet.» Mélenchon schaffe eine Art Oppositionsmonarchie.

Und worum geht es beim Kräftemessen der zwei Politiker, die selber gar nicht auf dem Wahlzettel stehen? Was bewegt die Franzosen? Überragendes Thema ist die Kaufkraft, die mit dem Ukraine-Krieg und der Inflation schwindet. Obenan steht zudem der Zustand der Schulen und des Gesundheitswesens.

In dem nur spärlich geführten Wahlkampf gab es Versprechen von mehr Sozialleistungen auf der einen und einer Belebung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt auf der anderen Seite. Entscheidend ist darüber hinaus die Rente: Macron will das Eintrittsalter auf 65 Jahre anheben, Mélenchon auf 60 Jahre senken. Dieser Streit aber wird wohl nicht nur im Parlament, sondern auch auf der Strasse ausgetragen.

((Von Michael Evers/dpa ))

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Scholz, Macron und Draghi besuchen Kiew
1 / 24
Scholz, Macron und Draghi besuchen Kiew
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (Mitte) mit dem Deutschen Kanzler Olaf Scholz (rechts) und dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi im Zug von Polen nach Kiew. Die Staatsoberhäupter wollen in der Ukraine den Präsidenten Wolodymyr Selenskyj treffen und den EU- und Nato-Gipfel Brussels bzw. Madrid vorbereiten.
quelle: keystone / ludovic marin
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Macron bleibt Präsident: Feier mit Europa-Hymne
Video: twitter
Das könnte dich auch noch interessieren:
6 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
6
Israel laut Bericht nicht für Massengrab verantwortlich +++ Rafah-Offensive wird konkret
Am 7. Oktober 2023 attackierte die Hamas Israel und ermordete 1200 Menschen. Israel reagierte mit Bombenangriffen und die Armee drang in den Gazastreifen ein. Am 14. April 2024 hat sich der Iran eingeschaltet und einen direkten Angriff auf Israel lanciert. Alle News im Liveticker.
Zur Story