Es ist die Woche der Wahrheit: Wird Russland am Donnerstag nach Abschluss der Wartungsarbeiten an der Pipeline Nordstream 1 den Hahn wieder aufdrehen? Oder lässt Präsident Wladimir Putin seinen Gasknüppel auf die Europäer niedersausen?
In Brüssel wie auch in den EU-Hauptstädten weiss niemand eine Antwort darauf. Die EU-Kommission rechnet vorsorglich mit dem Schlimmsten. Am Mittwoch wird sie deshalb ihren Notfallplan für einen Gasstopp präsentieren. EU-weite Rationierungsmassnahmen für den kommenden Winter, eine Heizobergrenze von 19 Grad in öffentlichen Gebäuden und Sparappelle werden Teil des Vorschlags sein.
Allerdings fehlt es Brüssel am wichtigsten: Einem Instrument, um sicherzustellen, dass in einer Gas-Mangellage unter den EU-Staaten nicht ein hässlicher Verteilkampf losbricht. Sprich: Dass sich das nicht wiederholt, was zu Anfang der Pandemie im Jahr 2020 schon beim Gesundheitsmaterial stattfand. Damals machten Länder wie Frankreich und Deutschland kurzerhand die Grenzen dicht und kauften sich gegenseitig die Gesichtsmasken weg. Die oft beschworene europäische Solidarität blieb auf der Strecke.
Die Sorge ist, dass sich dieses Szenario beim Gas wiederholen könnte. Bereits hat Ungarn den Ausnahmezustand erklärt und alle Energieexporte verboten. Am Schlimmste wäre es, wenn Deutschland, das nicht nur der grösste Gasverbraucher, sondern auch ein wichtiges Transitland in Europa ist, in der Not ebenfalls die Leitung zu seinen Nachbarn kappt, um die eigene Industrie und Privathaushalte zu schützen.
Betroffen wäre vor allem auch die Schweiz: Dreiviertel des hierzulande verbrauchten Gas kommt direkt aus Deutschland. 43 Prozent davon stammen aus Russland. Energieministerin Simonetta Sommaruga arbeitet deshalb unter Hochdruck daran, mit ihrem deutschen Amtskollegen Robert Habeck ein «Solidaritätsabkommen» auszuhandeln.
Um die Versorgung von sogenannt «geschützten Kunden» in der Schweiz sicherzustellen, würde Deutschland dann tageweise gewisse Teile seiner eigenen Wirtschaft herunterfahren. Zu den geschützten Kunden gehören nicht nur Privathaushalte, sondern auch gewisse öffentliche Einrichtungen wie Spitäler und Blaulichtorganisationen.
Das Abkommen gilt aber in beide Richtungen. Denkbar wäre auch, dass die Schweiz Teile ihrer Wirtschaft herunterfahren müsste, um Deutschland bei einem akuten Notstand auszuhelfen. Wer in der Schweiz genau den Geschützten-Status erhält ist im Moment das Wirtschaftsdepartement von Guy Parmelin daran aufzudröseln.
Noch lässt das Solidaritätsabkommen mit Deutschland aber auf sich warten. Es geht um komplexe technische Fragestellungen. Länger als unter EU-Staaten dauern die Verhandlungen mit der Schweiz auch, weil der Bund erst Teile der EU-Verordnung zur Gasversorgungssicherheit nachbauen muss. Es gilt Kompetenzen der Schweizer Regulierungsbehörden zu klären und die rechtlichen Voraussetzungen für den Ernstfall zu schaffen.
Die im Brüssel-Sprech genannte SOS-Verordnung («Security of Supply») ist Grundlage für alle Solidaritätsabkommen. Sie verpflichtet die EU-Staaten seit 2017, flächendeckende Notfallregelungen untereinander auszuhandeln. Bislang hat das aber kaum jemand gemacht. Nur sechs Solidaritätsabkommen gibt es in der EU heute. Die Schweiz führt aktuell nicht nur Gespräche mit Deutschland, sondern auch mit Italien, das einen signifikanten Teil seines Gases über eine Leitung quer durch die Schweiz erhält.
Aber selbst wenn die Schweiz ein Netz an gegenseitigen Beistandsverpflichtungen geknüpft hat: Eine Garantie, dass sich die Partner dann auch daran halten, gibt es keine, wie Sommaruga Ende Juni an einer Pressekonferenz mit Parmelin einräumen musste.
Insofern ist es die schmerzhafte Lehre aus der Pandemie, die zeigt: im Notfall ist sich jeder selbst der nächste. Im Extremfall könnten die Zulieferstaaten das für die Schweiz bestimmte Gas einfach für sich beschlagnahmen. Machen kann man wenig: Die Streitbeilegungsmechanismen in den Abkommen greifen frühestens nach Monaten.
Und selbst wenn der politische Wille zur gegenseitigen Hilfe vorhanden wäre könnte es rund um Deutschland noch aus einem anderen Grund zum Gas-Lockdown kommen. Versiegt das Gas aus dem Osten, muss es nämlich aus anderen Richtungen Europas nach Deutschland gepumpt werden. In Spanien zum Beispiel gibt es viele Landeterminals für LNG-Flüssiggas. Aber es fehlt an physischen Übergängen nach Frankreich, um das Gas in ausreichender Menge weiter zu transportieren.
Noch ist es aber nicht so weit. Inwiefern man im Herbst oder Winter wirklich in eine akute Mangellage hineingerät, ist unklar. Die europäischen Gasspeicher sind zurzeit mit 63 Prozent stärker gefüllt als in den Vorjahren. Die angepeilten 80 Prozent liegen in Reichweite. Zudem ist die EU daran, mit alternativen Lieferanten Verträge abzuschliessen. Am Montag unterzeichnete EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zum Beispiel in Aserbaidschan eine entsprechende Vereinbarung.
Fest steht jedoch: Bricht in Europa der Gas-Verteilkampf aus, liegt die Schweiz mittendrin. (aargauerzeitung.ch)