Auch in der Stadt Camden wurde wegen des Todes von George Floyd demonstriert. In der 70’000-Seelen-Stadt im Bundesstaat New Jersey ging es jedoch sehr friedlich zu. Anstatt in martialischen Kampfanzügen waren die Polizisten in ihren üblichen Alltagsuniformen auf der Strasse; und anstatt mit Knüppel und Tränengas gegen die Demonstranten vorzugehen, verteilten sie Glace.
Nun ist Camden nicht etwa ein privilegiertes Hippie-Dorf, in dem in Montessori-Kindergärten aufgewachsene und an Elite-Universitäten ausgebildete weisse Liberals sich ein sozialromantisches Experiment leisten. Im Gegenteil: Noch vor zehn Jahren trug die Stadt den wenig schmeichelhaften Titel «Murder Capital of the Country».
90 Prozent der Menschen in Camden sind schwarz und arm. Drogensucht und Morde waren an der Tagesordnung. Im Jahr 2012 hatte Scott Thomson, der damalige Polizeichef von Camden, die Schnauze voll. Er entliess alle Polizisten, auch sich selbst, denn er hatte realisiert, dass der grassierenden Kriminalität mit herkömmlichen Polizeimethoden nicht mehr beizukommen war.
Die meisten Polizisten waren weder schwarz, noch lebten sie in Camden. Sie kannten deshalb die Sorgen der Menschen nicht. Sie wussten zwar, wie man einen Straftäter festnimmt, aber sie hatten keine Ahnung, was es für eine alleinerziehende Mutter mit einem Einkommen von 12’000 Dollar jährlich bedeutet, wenn sie wegen eines banalen Verkehrsvergehens eine Busse von 200 Dollar aufgebrummt bekommt.
Die Polizei in Camden beschloss, sich neu zu erfinden. Das Corps wurde jünger und volksnaher. Die meisten Polizisten wurden zwar wieder eingestellt, aber mit gekürzten Löhnen, und sie wurden mit jüngeren Kollegen ergänzt. Die Ausbildung wurde weniger militärisch, die Polizeiarbeit bürgernah.
Bald stellten sich erste Erfolge ein. Die Polizisten wurden nicht mehr gefürchtet, sondern respektiert und die Menschen begannen, sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Die ehemalige Mord-Hauptstadt des Landes entwickelte sich allmählich zum Vorzeigemodell moderner Polizeiarbeit.
Camden ist auch Vorbild für das von Unruhen erschütterte Minneapolis. Auch in dieser Stadt, in der rund 400’000 Menschen leben, soll sich die Polizei völlig neu erfinden, denn wie in Camden hat das alte Modell versagt. Neun Stadträte von Minneapolis fordern eine Neuorganisation der Polizei. Einer davon, Jeremiah Ellison, drückt es im «Wall Street Journal» wie folgt aus: «Wir reden nicht darüber, die Sicherheit abzuschaffen. Wir wollen ein System abschaffen, das keine Sicherheit bieten konnte.»
Wenn also heute in den Vereinigten Staaten von «defunding the police» gesprochen wird, dann heisst dies nicht, dass die Polizei abgeschafft werden soll. (Okay, ein paar Wenige fordern selbst das, doch ein paar Spinner gibt es immer.) Es heisst vielmehr, dass es eine neue, bürgernahe Polizeiarbeit braucht.
Die Drogen- und Kriminalitätswelle, welche die USA in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts überrollt hat, führte zu falschen Schlüssen. Amerika begann, seine Ordnungskräfte militärisch aufzurüsten und seine Gefängnisse bis unters Dach zu füllen. Im Vergleich zu Europa sperren die Vereinigten Staaten absurd viele Menschen ein.
Gleichzeitig wurden die Polizisten zu einer Art Allzweckwaffe. Sie mussten nicht nur im Verkehr für Ordnung sorgen und böse Buben verhaften. Sie mussten Schüler überwachen, Drogensüchtige ins Spital einliefern und sich um Geistesgestörte und Obdachlose kümmern.
Auch ihre Ausrüstung wurde immer militärischer. Kein Wunder, nahm auch die Gewalt zu. Recherchen der «Washington Post» zeigen, dass jährlich rund 1000 Menschen von Polizisten erschossen werden.
In Minneapolis geht es nun konkret darum, dass rund 200 Millionen Dollar vom 1,3-Milliarden-Dollar-Budget der Stadt in Ausbildung und Sozialarbeit umgelenkt werden sollen. Auch das 189-Millionen-Budget der Polizei wird davon betroffen sein.
Anstatt in teure militärische Hardware soll mehr Geld in Programme fliessen, die geistig behinderten Menschen zugutekommen, oder für den Bau von Sozialwohnungen verwendet werden.
Das amerikanische Polizeisystem ist nicht nur überfordert, es leidet auch unter einem immanenten Rassismus. «Ob bewaffnet oder nicht, Schwarze werden in einem unverhältnismässig höheren Mass von Polizisten angeschossen oder getötet», stellt die «Washington Post» in der bereits erwähnten Recherche fest.
Dazu kommt, dass Polizisten vor allem junge Schwarze schikanieren. Bei der sogenannten «Stop and frisk»-Methode werden sie willkürlich angehalten und gefilzt, manchmal mehrmals am gleichen Tag. Diese Methode ist inzwischen allerdings in Verruf geraten.
Schliesslich werden die Polizisten kaum je zur Rechenschaft gezogen. Sie sind in sehr mächtigen Gewerkschaften organisiert – wohl die einzigen Gewerkschaften, die in den USA noch mächtig sind –, die dafür sorgen, dass ihnen kein Haar gekrümmt werden kann.
Die Privilegien der Polizei werden wegen der scheusslichen Tötung an George Floyd nun genauer unter die Lupe genommen. Der Ausgang des Prozesses gegen den weissen Polizisten Derek Chauvin und seine drei Mittäter wird daher von grösster Bedeutung sein. Das Gericht hat beschlossen, dass Chauvin gegen eine Kaution von einer Million Dollar auf freien Fuss gesetzt werden darf. Der nächste Gerichtstermin ist auf den 29. Juni angesetzt.
Die Organisation der Polizei erfolgt grundsätzlich auf lokaler Ebene. Die Ereignisse der letzten Wochen haben diese Fragen jedoch zu einer nationalen Frage von höchster Priorität gemacht.
Die Demokraten belassen es nicht mehr bei Worten und symbolischen Aktionen wie dem Niederknien im Kongress. Im Abgeordnetenhaus haben sie auch ein Gesetz eingebracht, das die Verfolgung strafbarer Polizisten erleichtern soll. Zudem sollen nationale Daten über die Polizeiarbeit gesammelt und neue Trainingsmethoden für Polizisten eingeführt werden.
Das Gesetz wird im republikanisch beherrschten Senat kaum behandelt werden. Donald Trump hat bereits angekündigt, er werde sein Veto dagegen einlegen. Zugleich hat sich der Präsident mächtig für die Polizisten ins Zeug gelegt. Es gebe ein «paar faule Äpfel», erklärte er an einer Pressekonferenz, aber «99,9 Prozent von ihnen» seien ganz tolle Typen.
Trump will zudem seinen Wahlkampf nun ganz unter das Motto von «Recht und Ordnung» stellen. Anders als seinerzeit Richard Nixon kann er jedoch – zumindest vorläufig – nicht auf eine «schweigende Mehrheit» zählen. Die jüngsten Umfragewerte sind für den Präsidenten niederschmetternd. Eine Umfrage von CNN sieht ihn 14 Prozentpunkte hinter Joe Biden. Seine Zustimmung ist auf 38 Prozent gesunken. Aber es steht noch ein langer und heisser Sommer bevor.
Ältere Atbeitnehmer entlassen und mit gekürztem Lohn Wiedereinstellen. Streichung der rechtlichen Rückendeckung. Welcher Cop wird sich noch einen Anwalt leisten können, wenn er im Dienst Nachbars Katze überfährt und auf eine Million verklagt wird?
Demilitarisierung begrüsse ich. Nur ich habe Berichte gelesen. Viele Polizeistellen nehmen lieber den Armeepanzer weil sie den gratis bekommen. Den normalen Streifenwagen nicht. woher dann das Geld in Zukunft bei Budgetkürzung? Tja...
Der Bundesstaat musste Kohle einwerfen, was nicht mehr tragbar war. Das County übernahm die Polizeiaufgaben.
Deswegen auch die niedrigeren Löhne.
Das gute community-arbeit geleistet wurde im Anschluss und das Vertrauen der poc in die Polizei steigt will ich nicht abstreiten. Aber die ganze Geschichte ist immer spannender nicht? Oder gibt es zwei Camden New Jersey?