In eindringlichen Worten hat der amerikanische Präsident Joe Biden am Dienstag seinen Amtskollegen Wladimir Putin vor den Folgen eines erneuten russischen Einmarsches in der Ukraine gewarnt. Amerika und seine europäischen Alliierten seien «zutiefst besorgt» über den Truppenaufmarsch an der West-Grenze Russland, wo Putin gemäss amerikanischen Geheimdienstinformationen bis zu 175'000 Soldaten zusammenziehe, sagte Biden während eines zwei Stunden langen Gesprächs mit Russlands Präsidenten.
Biden drohte Putin umfassende wirtschaftliche Sanktionen und «andere Massnahmen» an, falls es zu einer «militärischen Eskalation» der Krise komme, wie es in einer Stellungnahme des Weissen Hauses hiess. Die Unterredung war nicht öffentlich, das russische Staatsfernsehen zeigte aber, wie sich die beiden Präsidenten vor Beginn der Videokonferenz begrüssten. Der Kreml verzichtete nach Abschluss des Telefongesprächs vorerst auf die Veröffentlichung einer Stellungnahme.
WATCH: Russian state television broadcasts the moment @POTUS Biden and @KremlinRussia_E greet each other over videoconference. pic.twitter.com/34mtXF6Okk
— Ed O'Keefe (@edokeefe) December 7, 2021
Unbedingt verhindern will das Weisse Haus, dass sich die Geschichte wiederholt. Als Putin vor nunmehr sieben Jahren zum ersten Mal den Befehl gab, Teile des westlichen Nachbarlands mit militärischen Mitteln zu annektieren, da wurde der damalige US-Präsident auf dem falschen Fuss erwischt. Barack Obama hatte auf diplomatische Mittel gesetzt, um eine Eskalation der Ukraine-Krise zu verhindern. Auch schien er der Meinung zu sein, einen direkten Draht mit Putin gefunden zu haben. Doch der russische Präsident ignorierte das gute Zureden des Amerikaners und die Sanktionsdrohungen des Weissen Hauses, setzte seinen Plan um und annektierte die Krim.
Biden, der Obama als Vizepräsident diente, hat diese Episode nicht vergessen. Er erinnert sich, dass Putin auch deshalb zuschlug, weil er sein amerikanisches Gegenüber als machtpolitisch schwach einschätzte - auch weil sich Obamas aussenpolitische Ansagen in der Vergangenheit als Papiertiger herausgestellt hatten. (So überschritt der syrische Diktator 2013 die «rote Linie», die Obama in den Levante-Sand gezeichnet hatte, ohne dafür bestraft zu werden.)
Damit lag der Russe auf einer ähnlichen Wellenlänge wie die innenpolitischen Kritiker des US-Präsidenten. So schrieben die konservativen Kommentatoren des «Wall Street Journal» im März 2014 in einem Meinungsartikel, der den Titel «Willkommen im 19. Jahrhundert» trug: «Putin und die neuen Bonapartes sehen einen schwachen Westen, der sich auf dem Rückzug befindet.»
Mit ähnlichen Worten wird heute auch die Regierung Biden beschrieben, die sich innen- und aussenpolitisch in einem tiefen Tal der Tränen befindet. Der hastige Rückzug aus Afghanistan jedenfalls war für sein Macho-Gegenüber Putin ein weiterer Beweis dafür, wie schlecht es um die angebliche Weltmacht USA steht. Die innereuropäischen Debatten über die künftige Russland-Politik werden den Russen bestärkt haben, dass es dem Westen nur selten gelingt, in der Diskussion über die Ukraine mit einer Stimme zu sprechen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie häufig das Weisse Haus in den vergangenen Tagen betonte, dass Putin gemäss dem aktuellen Wissensstand noch keine Entscheidung über eine zweite Invasion der Ukraine getroffen habe. Russland-Experten spekulieren deshalb darüber, dass der Kreml die neue Krise primär dazu wolle, dem Westen Zugeständnisse abzuknüpfen. So könnte er Biden dazu drängen, die Debatte über eine Aufnahme der Ukraine in die Nato ein für alle Mal zu beenden.
Auch Yves Rossier, der ehemalige Botschafter der Schweiz in Russland, geht nicht davon aus, dass «die Russen so dumm sind», in der Ukraine einzumarschieren. Den Truppenaufmarsch an der Grenze nennt er vielmehr einen Einschüchterungsversuch. «Russland möchte einen Deal», sagt Rossier. Putin wolle von Biden die Garantie, dass die Ukraine nicht in die Nato aufgenommen werde, sagt der ehemalige Top-Diplomat im Gespräch mit CH Media.
Dem amerikanischen Präsidenten wird diese Forderung bekannt vorkommen. Als Washington in den Neunzigerjahren über die Erweiterung der Nato nach Osteuropa debattierte, da sagte der damalige Senator Biden: «Ich glaube, es gibt eine historische Differenz zwischen der Ukraine und dem Baltikum.» Bei letzteren handle es sich um souveräne Staaten, deren Annexion von der USA nie anerkannt worden sei. Deshalb, sagte Senator Biden, «scheint es mir grundsätzlich sehr wichtig zu sein», zwischen dem Baltikum und der Ukraine zu unterscheiden.
Andererseits: Biden versprach im Wahlkampf 2020, dass er gegenüber Putin nicht kuschen werde – im Gegensatz zum damaligen Präsidenten Donald Trump, der nicht nur in den Augen Bidens seinem russischen Amtskollegen regelmässig Zugeständnisse gemacht hatte. Trump findet diese Kritik nicht fair: «Ich konnte es sehr gut mit Putin», bestätigte er zwar zu Wochenbeginn in einem Interview mit dem Fernsehsender «Newsmax». In den Verhandlungen mit Putin sei er aber immer hart geblieben. (bzbasel.ch)