«Vagabunden», «Prostituierte» oder «verwahrloste Jugendliche»: Jahrzehntelang wurden unliebsame Personen ohne Gerichtsurteil in Anstalten weggesperrt. Die Praxis der administrativen Versorgungen war allgegenwärtig, wie erste Erkenntnisse von Experten zeigen.
«Wir wissen noch nicht, wie viele Menschen effektiv von solchen Massnahmen betroffen waren», sagte der Historiker Beat Gnädinger am Mittwoch vor den Medien in Bern anlässlich einer Zwischenbilanz der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen. Von Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er-Jahre dürften es aber mehrere 10'000 Personen gewesen sein.
Ganz genau lässt sich das heute wohl nicht mehr feststellen. Ziel der UEK ist es, die Zahl der Einzelschicksale wenigstens in der Annäherung herauszufinden. Der Bundesrat hatte die UEK 2014 eingesetzt, um die Praxis der Versorgungen wissenschaftlich aufzuarbeiten, ähnlich wie es zuvor die Bergier-Kommission zum 2. Weltkrieg getan hatte.
«Eigentlich nichts angestellt»
Obwohl die Arbeit erst 2019 abgeschlossen sein wird, zeigen sich in den Auswertungen erste Tendenzen, wie der Basler Geschichtsprofessor Martin Lengwiler sagte. So erlebte die Praxis etwa in den 1920er-Jahren während der Wirtschaftskrise und im 2. Weltkrieg eine «Blütezeit».
Damals griffen die Behörden meist ein, weil sie vermeintliche oder tatsächliche Armut verhindern wollten. In der Nachkriegszeit tauchten dann neue Probleme wie Drogenkonsum oder «liederlicher Lebenswandel» auf. Darunter konnte etwa auch schon fallen, wer sich sogennante «Schundhefte» anschaute, wie der Historiker sagte.
In den Gesprächen mit Betroffenen zeige sich immer wieder, dass genau dieser Umstand sehr belastend und traumatisierend sei, sagte Lengwiler: «Eigentlich nichts angestellt zu haben», aber trotzdem mit einem schweren Eingriff in die persönliche Autonomie bestraft worden zu sein.
Dabei gab es in Bezug auf Gesetze und Verfahren beträchtliche Unterschiede zwischen den Kantonen und Gegenden, wie die Kommissionsmitglieder schilderten. Während im Waadtland etwa eine aus mehreren Personen bestehende Kommission die Entscheide fällte, war im Kanton Freiburg der Oberamtmann alleine dafür zuständig. Und obwohl manche Kantone über keine Gesetzgebung zur administrativen Versorgung verfügten, landeten zahlreiche Menschen dennoch in einer Anstalt - mit Verweis auf andere Gesetze.
«Tür an Tür mit Verbrechern»
«Die Gesetze dienten nicht selten als Vorwand, um gesellschaftliche Probleme anzugehen», sagte Anne-Françoise Praz, Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg. So richteten sich die Massnahmen in der Waadt vor allem gegen «Prostituierte».
Manche administrativ Versorgte wurden auch einfach als Gefahr für die Gesellschaft betrachtet, wie Jacques Gasser, Professor für Allgemeine Psychiatrie an der Universität Lausanne, erläuterte. Oft ging es dann um die Frage, ob die betroffene Person heilbar sei. Je nach Antwort wurden die Schwerpunkte anders gelegt.
In den Anstalten ging es auch ganz unterschiedlich zu und her. Manche waren auf Jugendliche spezialisiert, andere beherbergten auch Strafgefangene. «Administrativ Versorgte lebten teilweise Tür an Tür mit Verbrechern», so Lengwiler. Der Alltag in den Institutionen war von Disziplin geprägt, das Ziel hiess oft Umerziehung. «Doch zwischen dem was man wollte, und dem was man tat, klaffte eine Lücke», wie Praz sagte.
Unrecht anerkannt
Die neunköpfige Kommission unter der Leitung des ehemaligen Zürcher SP-Regierungsrats Markus Notter stützt ihre Arbeit wo möglich auf Gespräche mit Betroffenen. Gerade sie sollen von den Erkenntnissen aus erster Hand erfahren.
Um weiter zurückliegende Fälle aufzuklären, steigen die Forscherinnen und Forscher in die Archive. Diese seien reich gefüllt und gut zugänglich. Gerade in der Freiburger Strafanstalt Bellechasse sind laut Praz viele Briefe von Weggesperrten erhalten, weil sie nie abgeschickt wurden.
Die wissenschaftliche Aufarbeitung ist Teil der Rehabilitation von Opfern der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, mit der der Bund das historische Unrecht anerkennt. Die UEK verfügt über ein Budget von rund 10 Millionen Franken und will ihre Erkenntnisse bis 2019 in mehreren Publikationen darlegen. Ein anderes Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) wird sich ab diesem Frühjahr den Verdingkindern widmen.
Für die Opfer aller Zwangsmassnahmen wurde ein Fonds mit 300 Millionen Franken geschaffen. So sollen 12'000 bis 15'000 anspruchsberechtigte Opfer einen Solidaritätsbeitrag erhalten. Das entsprechende Gesetz tritt am 1. April in Kraft. (sda)