Die Bündner Behörden müssen für die nächste Wahl des Grossen Rates eine neue Wahlordnung schaffen. Das heutige Majorzwahlsystem ist nicht vollumfänglich mit der Bundesverfassung vereinbar. Dies hat das Bundesgericht entschieden.
Das im Kanton Graubünden geltende Majorzwahlsystem entspricht im kleinsten Wahlkreis Avers und in den sechs bevölkerungsreichsten Wahlkreisen Chur, Fünf Dörfer, Oberengadin, Rhäzüns, Davos und Ilanz nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
Dies hat das Bundesgericht in einem am Mittwoch veröffentlichten Leiturteil entschieden und eine Beschwerde teilweise gutgeheissen. Es ist das erste Mal, dass das Bundesgericht ein reines Majorzsystem für die Wahl eines kantonalen Parlaments auf seine Vereinbarkeit mit der Verfassung überprüft hat. Neben dem flächenmässig grössten Kanton Graubünden wählt einzig der kleine Kanton Appenzell Innerrhoden nach dem Majorzwahlsystem.
Die Beschwerde gegen das aktuelle System hatten 54 Privatpersonen und fünf Bündner Parteien eingereicht, darunter die SP als einzige Regierungspartei. Die Beschwerdeführer verlangten, das Majorzwahlsystem in den 39 Wahlkreisen für die Bestellung des 120-köpfigen Bündner Grossen Rates auf dessen Verfassungsmässigkeit zu überprüfen.
Sie rügten mehrere Punkte des Wahlsystems, darunter die fehlende Stimmkraftgleichheit. Weil jeder Wahlkreis ein Anrecht auf mindestens einen Sitz hat, repräsentiert der gewählte Grossrat aus dem kleinsten Wahlkreis Avers nur 160 Einwohner. Die durchschnittliche Repräsentationsziffer beträgt hingegen 1342 Personen. Dieser grosse Unterschied ist gemäss Bundesgericht nicht verfassungsmässig.
Wahl von Personen oder Parteien
Weiter kritisierten die Beschwerdeführer, dass die in der Bundesverfassung garantierte Erfolgswertgleichheit verletzt werde. Dem stimmen die höchsten Schweizer Richter zu. Sie fügen jedoch an, dass sich die Erfolgswertgleichheit in einem Majorzwahlsystem nicht verwirklichen lasse, was zum Teil zulässig sei.
Zulässig sei dies etwa, wenn in einem Wahlkreis wahrscheinlich sei, dass die Persönlichkeit einer Kandidatin oder eines Kandidaten für den Wähler entscheidend sei und nicht die Parteizugehörigkeit. In den sechs bevölkerungsreichsten Wahlkreisen erachtet das Bundesgericht diese Bedingung nicht als erfüllt.
Angesichts der Grösse der Bevölkerung und der entsprechend grossen Zahl der zu vergebenden Sitze könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Kandidaten den Wählern grösstenteils persönlich bekannt seien. Vielmehr sei hier meist die Parteizugehörigkeit ausschlaggebend.
Mehrere zulässige Varianten
Abgewiesen hat das Bundesgericht die Rüge der Beschwerdeführer, wonach die Sitze für den Grossen Rat nicht entsprechend der schweizerischen Wohnbevölkerung auf die Wahlkreise verteilt werden dürfe. Bereits früher hat das Bundesgericht drei Varianten als zulässig erachtet: Die Abstützung auf die gesamte Wohnbevölkerung, auf die schweizerische Wohnbevölkerung oder auf die Zahl der Stimmberechtigten. Diese Sicht hat das Bundesgericht im aktuellen Urteil bestätigt.
In ihrem Urteil skizzieren die Lausanner Richter mögliche Lösungsansätze für eine künftige Wahlanordnung. Denkbar sei eine Aufteilung der grössten Wahlkreise. Alternativ sei auch die Einführung eines Mischsystems möglich, bei dem in den grösseren Wahlkreisen das Proporzprinzip angewendet werde und in den kleineren das Majorzwahlsystem bestehen bleibe.
SP zufrieden, CVP enttäuscht
In Graubünden ist die Meinung weit verbreitet, dass von einem Wechsel zu Verhältniswahlen kleinere Parteien profitieren würden. Im Alpenkanton zählen dazu die SP und die SVP. FDP und CVP sind die klar grössten Parteien. In diesem Licht dürften auch die Reaktionen gedeutet werden.
Die SP Graubünden als wichtigste Beschwerdeführerin etwa sieht sich bestätigt: Nach Jahrzehnten der Auseinandersetzungen werde erstmals bundesgerichtlich festgehalten, dass das Wahlsystem in Graubünden in seiner heutigen Form - trotz grosszügiger Auslegung - verfassungswidrig sei. Das Urteil des Bundesgerichts ist für die Sozialdemokraten ein «Meilenstein in der Bündner Politikgeschichte».
Das Ziel müsse nun eine reformierte Wahlordnung sein, die der Bundesverfassung standhalte, die austariert und zukunftsfähig sei - und bei der jede Stimme möglichst gleich viel zähle.
Die CVP Graubünden nahm das Urteil «mit Erstaunen und Bedauern zur Kenntnis». Obwohl eine Mehrheit der Bündner Stimmberechtigten wiederholt das geltende Majorzverfahren bestätigt habe, habe das Bundesgericht den verfassungsmässigen Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit höher gewichtet.
Die CVP zeigt sich indessen bereit, sich an der Schaffung eines verfassungsgerechten Wahlsystems zu beteiligen, das die Anliegen der Randregionen berücksichtige und zudem auch den kleineren politischen Gruppierungen gerecht werde.
(Urteil 1C_495/2017 vom 29.07.2019) (sda)