Ein libysches Uranförderungsprogramm, die CIA, Christoph Blocher und eine Schweizer Familie: Es ist ein verworrener, unübersichtlicher und spektakulärer Fall, der Fall der Familie Tinner, die Teile für das verbotene Atombombenprogramm des libyschen Diktators Muammar Ghadafi lieferte. Es ist ein Fall, der Fragen aufwirft, die bis heute noch nicht beantwortet sind. Es ist ein Fall, der die Regierung in ein schiefes Licht rückte. Und es ist ein Fall, der die Schweizer Politik und Justiz seit nunmehr zehn Jahren beschäftigt.
Diese Woche kommt es zu einer weiteren Verhandlung in der Sache: Vor dem Bundesstrafgericht Bellinzona steht am Donnerstag der – neben den Gebrüdern Tinner, deren Vater und dem Ingenieur Daniel Geiges – fünfte Schweizer Angeklagte in der Affäre: M. S.*, ein 65-jähriger Ingenieur aus dem Kanton St. Gallen. Die Bundesanwaltschaft wirft S. Widerhandlungen gegen das Verbot von Kernwaffen vor. Der Ingenieur streitet bis heute alles ab. Und hat Beschwerde gegen den Strafbefehl von Staatsanwalt Peter Lehmann eingereicht.
Laut diesem Strafbefehl soll S. ab Januar 2003 die Steuerung für eine Produktionsanlage zur Hochanreicherung von Uran konzipiert haben – im Auftrag von Friedrich Tinners Sohn Marco und gegen eine Anzahlung von 30'000 Franken. Ausserdem investierte Tinner 100'000 Franken in die Firma von S.. Ziel sei es gewesen, so steht es im Strafbefehl, die bisher in der Anlage eingesetzte zentrale Ventilsteuerung zu dezentralisieren. Das sei allein die Idee von S. gewesen.
Eigenen Angaben zufolge habe der Beschuldigte bis im Juni 2003 geglaubt, dass seine Entwicklung für friedliche Zwecke zum Einsatz komme, nach Dubai geliefert würde und Tinner, der in der Atomschmuggel-Affäre als Kontaktmann Maschinen, Werkzeuge und Materialen besorgte, eine Ausfuhrbewilligung für die Güter habe.
Ende Juni 2003 soll der Ingenieur dann erfahren haben, dass die Steuerung für ein libysches Urananreicherungsprogramm zur Herstellung von Atomwaffen bestimmt war. Im August 2003 soll Tinner S. damit beauftragt haben, mit der Entwicklung der Steuerung aufzuhören. Ungeachtet dessen habe der Ingenieur die Konzeption der Steuerung, die zu diesem Zeitpunkt zu 70 Prozent abgeschlossen war, vorangetrieben – und Tinner gar angefragt, ob er seine Entwicklung an den Leiter des libyschen Urananreicherungsprojektes verkaufen könne. Im September 2003 habe er die notwendigen schematischen Zeichnungen erstellt und die theoretische Konzeption der Steuerung vollendet.
Der Rest ist Geschichte: Khan, «Vater» der pakistanischen Atombombe, gibt im Jahr 2004 öffentlich die illegale Lieferung von Atomtechnologie an Iran, Libyen und Nordkorea zu, Libyen stellt sein Atomwaffenprogramm ein. Mit dafür verantwortlich sollen die Tinners gewesen sein, die ab Juni 2003 mit der CIA kooperiert hatten (siehe Box). 2004 werden die Tinners verhaftet, 2012 ereilt ein erster Strafbefehl den Ingenieuren S.. Gegenüber der «NZZ am Sonntag» begründete die Bundesanwaltschaft die lange Verfahrensdauer damit, dass zuerst die Hauptverhandlung gegen die Tinners habe abgewartet werden müssen.
Am Donnerstag dürfte es zum Abschluss in der Affäre kommen. Die Bundesanwaltschaft fordert eine bedingte Strafe von 30'000 Franken verbunden mit einer Busse in der Höhe von 6000 Franken. Dass S. mit der Konzipierung der dezentralen Steuerung vorsätzlich die Entwicklung von Kernwaffen förderte, sollen Einvernahmen des Ingenieurs und Zeugenaussagen von Marco Tinner belegen. Doch ein Teil des Beweismaterials fehlt auch in diesem Verfahren, weil die Regierung 2007 in der Strafsache Tinner die Vernichtung von beschlagnahmten Gegenständen, Akten und Datenträgern angeordnet hatte.
*Name der Redaktion bekannt