Wirklich geplant war der Aufstieg des Jeremy Corbyn nicht. Als die Labourpartei nach ihrer Wahlschlappe im Jahr 2015 einen neuen Chef suchte, rutschte er eher zufällig auf die Liste der Kandidaten, als Zugeständnis an die Parteilinke, aber ohne jede Chance, den Posten zu erhalten. Corbyn galt zwar als prinzipientreu und integer, aber auch als intellektuell hoffnungslos hinter dem Mond.
Der Hinterbänkler aus dem Londoner Wahlkreis Nord-Islington wurde zur Konsternation der Parteioberen von der Parteibasis zum neuen Chef gekürt – und sogleich von der Opposition und den Medien mit Hohn und Spott übergossen. Kein Wunder: Corbyns Programm scheint in den 60er Jahren stecken geblieben zu sein. Er hasst die USA, schwärmt für Putin und südamerikanische Revolutionäre wie Hugo Chavez, will Grossbritannien aus der NATO führen und seine Atomwaffen einmotten.
Corbyn will auch Banken, Bahnen und Energieunternehmen verstaatlichen, die Reichen und das Kapital stärker besteuern, hohe Mindestlöhne einführen und die Gebühren für Hochschulen abschaffen. Für liberale Ökonomen sind dies absurde Träumereien, die unweigerlich zu einem Kollaps der Wirtschaft führen würden.
Trotzdem ist der kauzige Rentner in diesem Sommer zum politischen Aufsteiger auf der Insel geworden. An Open-Air-Festivals wird er gefeiert wie ein Rockstar, Mütter taufen ihre Babys auf seinen Namen, in den Wettbüros wird er als Favorit für das Amt des nächsten Premierministers gehandelt. Derweil befindet sich die Labour Party, die bereits als klinisch tot diagnostiziert wurde, in einem Stimmungshoch und erlebt einen rekordverdächtigen Zustrom von jungen Mitgliedern, und zwar in Wahlkreisen, in denen sie bisher chancenlos war. «Labour legt in kosmopolitischen, urbanen Gegenden zu», vermeldet der «Economist» verblüfft.
Ganz anders sieht die Lage beim ewigen Erzfeind aus, bei der Konservativen. Derzeit führen die Tories in Manchester ihren Parteitag durch und zerfleischen sich dabei öffentlich. «Uneinigkeit und dramatischer Vertrauens- und Machtverlust», stellt der «Guardian»-Kolumnist Matthew d’Ancona in der «New York Times» fest und fügt hinzu: «Während mehr als zwei Jahrzehnten habe ich diese Veranstaltung besucht. Noch nie schienen mir die Tories intellektuell so ausgepumpt und ohne Kampfeswillen zu sein. Die Partei ist wie ein führerloses Auto: offensichtlich auf Crash-Kurs.»
Eigentlich hätten auch die Tories eine Chefin. Noch vor Jahresfrist wurde Theresa May als neue Maggie Thatcher gefeiert. Seit ihrer katastrophalen Wahlniederlage im vergangenen Juni ist sie eine «dead woman walking», wie sie der ehemalige Finanzminister George Osborne nannte. Dabei hatte May angesichts des vermeintlichen Corbyn-Kollapses der Labour Party mit einem triumphalen Wahlsieg und einer unanfechtbaren Mehrheit im Parlament gerechnet.
Stattdessen wird die Premierministerin nun in Manchester regelrecht vorgeführt. Federführend ist dabei einmal mehr Boris Johnson. Der aktuelle Aussenminister und ehemalige Bürgermeister von London ist ein hemmungsloser Opportunist und noch hemmungsloserer Populist. Im «Daily Telegraph», dem Leibblatt der Konservativen, hat er vor ein paar Wochen einen Artikel platziert, in dem er seine Brexit-Vorstellungen schildert. Dabei plädiert er für einen ultraharten Austritt und wärmt einmal mehr die Mär von den hunderten Millionen Pfund auf, die anstatt nach Brüssel ins nationale Gesundheitswesen fliessen sollen.
Johnson spielt ein fieses Spiel, das einzig darauf ausgerichtet ist, ihn zum Nachfolger von May zu machen. Er beteuert öffentlich seine Loylität zur Premierministerin und fällt ihr gleichzeitig bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Rücken. Innerhalb der Parteiführung ist er deshalb äusserst verhasst. Die Parteibasis und die Hinterbänkler jedoch lieben ihn.
Premierministerin May hat zumindest teilweise erkannt, dass ihre «besser-keinen-Deal-als-ein-schlechter-Deal»-Haltung in Brüssel chancenlos ist. Sie ist deshalb bereit, nach dem beschlossen Brexit eine mindestens zwei Jahre lange Transitperiode einzuräumen, in der das Vereinigte Königreich alle Pflichten eines EU-Mitgliedes hat, aber keine Rechte. Diese realistische Einschätzung wird von Johnson gezielt untermauert, mit fatalen Folgen für das Land.
«Die rituelle Erniedrigung von Mrs May – und machen wir uns nichts vor, genau das ist es – hat Folgen, die weit über die Parteikonferenz und die Britischen Ufer reichen», stellt d’Anonca fest. «Die Austrittsverhandlungen mit der EU sind ein Härtetest selbst für eine starke Regierung. Wir aber haben eine der schwächsten Regierungen seit Menschengedenken.»
Jeremy Corbyn kann sich derweil vergnügt die Hände reiben – und warten. Auch seine Position zum Brexit ist, milde ausgedrückt, verschwommen. Das spielt keine Rolle. Dank Mays fataler Fehlspekulation muss er nur darauf achten, dass sein Image als integrer Politiker nicht gefährdet wird – und sich überlegen, wie viele Katzen er mit an die Downingstreet 10 mitnehmen will.