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Die Schweiz hat noch nie so viele Konzerte erlebt – das bereitet Sorge

Visitors enjoy the concert of the Australian hard rock band AC/DC at the Letzigrund stadium in Zurich, Switzerland, on 5 June 2015. The band introduced its latest album "Rock or Bust". (KEYS ...
Konzert im Letzigrundstadion 2015: Eine Flut an Konzerten, wie sie die Schweiz noch nicht erlebt hat, rollt an.Bild: KEYSTONE

Das wird der grösste Festival-Sommer seit Jahren – und das bereitet einigen grosse Sorgen

Die Pandemie hat einen riesigen Konzertstau verursacht, der sich in den nächsten Monaten entladen wird. Gut für das Publikum, brandgefährlich für die hiesige Konzert- und Festivalbranche.
28.05.2022, 12:5428.05.2022, 17:10
Stefan Künzli / ch media
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Mit Feuer und Karacho eröffnen Rammstein den sommerlichen Konzertreigen Ende Mai. Danach geht’s Schlag auf Schlag. Eine wahre Flut von Konzerten, Festivals und Open Airs erreicht die Schweiz. Mit einer Wucht und Grösse, wie es unser Land noch nicht erlebt hat. Allein im Stadion Letzigrund (Kapazität 48000 Leute) sind sieben Konzerte angesagt. Bisher gab es schweizweit nur rund vier Stadionkonzerte pro Jahr. In diesem verrückten Sommer kommen neu drei Konzerte im Berner Wankdorf (Kapazität 40000) sowie in der Stockhorn Arena in Thun (20000) dazu. Ambitionen auf Stadionkonzerte hat auch der Basler St. Jakob Park angemeldet.

Das Konzert der Foo Fighters wurde wegen des Todes von Schlagzeuger Taylor Hawkins aber abgesagt. Dafür kommt es zu einem Rock-Revival von «Out In The Green» in Frauenfeld mit dem Headliner Metallica. Das Angebot hat sich also fast verdreifacht.

Jetzt brechen alle Dämme

Neben den elf Stadionkonzerten explodiert das Angebot auch bei den grossen und grösseren Konzerte. Auf der Eventliste des grössten Schweizer Veranstalters Gadget abc Productions stehen in den Sommermonaten bis Ende September über 200 Konzerte. Es gibt kaum einen konzertfreien Tag und Termine, die bis sechsfach belegt sind.

Auch im Hallenstadion Zürich sind in den Sommermonaten so viele Konzerte wie noch nie gebucht: Pearl Jam, Queen, 50 Cent, Iron Maiden, Kiss, Billie Eilish und Alicia Keys, um nur die Wichtigsten zu nennen, buhlen hier um das Publikum. Dabei gönnt sich das Hallenstadion nur im August eine Pause. Kann das aufgehen? Gehen da alle Tickets weg?

Der Grund für die Konzertflut ist klar. Corona hat zu einem enormen Stau geführt, der sich in diesem Sommer mit Getöse entlädt. Zu den verschobenen Konzerten gesellen sich Legionen von Bands und Musikern, die ihre neuen Produktionen live präsentieren wollen. Konzerte sind für sie existenziell, denn ihr Verdienst hat sich längst von den Plattenverkäufen zu den Konzerten verschoben.

Das Publikum ist zurück und hungrig auf Konzerte

In der Schweiz spricht man seit Jahren von einem Überangebot. 2022 stösst der Konzertsommer aber noch mal in eine neue Dimension vor. Die grosse Frage ist deshalb, ob die Nachfrage mit dem Angebot Schritt halten kann. «Rund 10 Millionen Tickets werden in diesem Sommer in der Schweiz angeboten. Es ist verrückt. Das kann nicht funktionieren», sagt Mathieu Jaton vom Montreux Jazzfestival. Veranstalter-Legende André Béchir von Gadget abc sieht das ähnlich: «Ich hoffe natürlich, dass es gut kommt. Aber ich habe da meine Fragezeichen.»

Das Publikum freuts. Im Frühling war es noch sehr zurückhaltend. Der Vorverkauf verlief harzig und Konzerte mussten wegen mangelnder Nachfrage abgesagt werden. Aber jetzt zieht die Nachfrage an. Die Leute haben die Skepsis abgelegt und sind hungrig auf den Festivalsommer. Das Publikum ist zurück. Das Open Air St. Gallen, das Heitere Open Air und das Paléo Festival in Nyon sind ausverkauft und der Vorverkauf für das Montreux Jazzfestival läuft gemäss Mathieu Jaton sogar um 20 Prozent besser als zum selben Zeitpunkt vor Corona. «Wir sind zurück in der Normalität. Wir dürfen zuversichtlich sein», sagt Christoph Bill vom Verband der grossen Veranstalter SMPA und schätzt, dass das sich die Sommerfestivals über alles gesehen leicht unter dem Niveau der Vor-Pandemie einpendeln werde.

Aber auch für die Stadionkonzerte sieht es nach schwierigem Start besser aus als befürchtet. Béchir rechnet damit, dass die Rolling Stones doch noch ausverkauft melden können. «Der Hype kommt kurz vor dem Konzert», sagt er überzeugt. Überraschend erfreulich verlaufe der Vorverkauf für die Imagine Dragons im Wankdorf, und auch für Elton John gäbe es nur noch 2800 Tickets. 95 Prozent der Tickets sind auch für die Konzerte von Ed Sheeran schon weg. Düsterer sind dagegen die Perspektiven für die Toten Hosen, das zweite Konzert der Büezer Buebe sowie für Metallica. Es geht dabei um die letzten 20 bis 30 Prozent, die Mühe bereiten. Bei einem Stadionkonzert von mehreren 10000 Leuten kann der Verlust schnell in die Millionen gehen.

Leiden werden kleine und mittlere sowie Indoor-Konzerte

Leiden dürften bei diesem Überangebot vor allem die Indoor-Konzerte sowie die kleinen und mittleren Gigs. Béchir rechnet damit, dass hier «einige Veranstalter auf der Strecke bleiben werden». Generell lässt sich sagen, dass es die neuen gegenüber den verschobenen Konzerten schwerer haben. «Irgendwie müssen wir dieses krasse Jahr überstehen. Die grosse Nagelprobe folgt im nächsten Jahr», sagt Johannes Vogel von All Blues, der Ed Sheeran in die Schweiz geholt hat.

Die Konzertflut erschwert auch die Umsetzung. Die Veranstalter sind ex­trem gefordert. Nach dem Lockdown ist es besonders schwierig und aufwendig, die Konzertmaschinerie wieder zum Laufen zu bringen. «Es ist so viel los, dass es zu Engpässen beim verfügbaren Material kommt», sagt Bill. Es fehlt etwa an Bühnen, Bodenabdeckungen oder Zelten. Zeltbauer sind ebenso am Anschlag wie die Technikfirmen. Sie sind komplett ausgelastet. Verschärft wird die Situation dadurch, dass während der Pandemie Personal abgebaut werden musste oder die Fachkräfte die Branche von sich aus gewechselt haben.

Gemäss Mathieu Jaton haben sich die ökonomischen Regeln für den Konzert- und Festivalmarkt in den letzten zwei Jahren grundlegend verändert. «Unser Geschäft war schon immer riskant», sagt er. «Früher waren das Wetter und die Ticketverkäufe die beiden Unbekannten. Das Risiko hat sich heute markant vergrössert», sagt er. Was passiert mit der Pandemie? «Wir sind noch nicht auf der sicheren Seite. Es kann jederzeit wieder zu einem Ausbruch kommen», sagt er. Was ist mit dem Krieg? Wie entwickeln sich die Preise, vor allem die Bierpreise? Ist genügend Material an Holz und Stahl vorhanden?

Montreux hat das Risiko beim Merchandising minimiert, indem nichts mehr aus China und Asien importiert wird. «Wir kaufen so viel wie möglich in der Schweiz oder Europa ein. Das ist zwar etwas teurer, dafür nachhaltiger», sagt Jaton. «Wir müssen gewappnet sein und die neuen Risiken in unsere Berechnungen integrieren», sagt er. Entscheidend wird sein, wie die Festivals unter diesem Paradigmenwechsel bestehen können. (aargauerzeitung.ch)

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Dinge, die du vermutlich nur auf Festival siehst
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Dinge, die du vermutlich nur auf Festivals siehst
Der Grundgedanke: Je kleiner das Zelt, umso weniger Gewicht musst du auf das Gelände tragen.
quelle: imgur
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Faber, Laurent & Max, Nico «079» – live am Openair St. Gallen 2018
Video: watson
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65 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Nelson Muntz
28.05.2022 13:13registriert Juli 2017
Eine Auflistung wär nett, und eine Info für welche es noch Tickets gibt.
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Lowend
28.05.2022 13:19registriert Februar 2014
Die grösste Begrenzung für die Festivals ist das Budget der Fans. Wenn man davon ausgeht, dass ein Konzertwochenende im Schnitt mehr als 250.- kostet, müssen die meisten Menschen schon nur aus finanziellen Gründen wählerisch sein und es wird kaum jemand geben, der von Festival zu Festival ziehen kann und dazwischen noch genug Geld hat, ein paar Grosskonzerte zu besuchen. Da ist es glasklar, dass da die kleineren Bands und Veranstalter ziemlich unten durch müssen, wenn sogar diese zwei «Büetzer Buebe» wieder mal richtige Jobs brauchen. 😉
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Hamudi Dudi
28.05.2022 13:14registriert September 2019
Seit zwei Jahren freue ich mich auf Rammstein im Letzi!😍
Muss aber sagen, dass ich vom aktuellen Veranstaltungsangebot fast ein bisschen überfordert bin. Gefühlt täglich ist etwas Interessantes los.
Wünsche allen viel Spass!❤️
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So hätten die Logos grosser Firmen im Mittelalter ausgesehen – vermutlich

Wie hätten wohl Logos von grossen Firmen und Unternehmen früher ausgesehen? Eine Frage, auf die wir wohl nie eine Antwort bekommen werden … oder doch?

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