Liebe Alice
Ja, ich verstehe Ihren Standpunkt. Und ja, ich wäre auch gekränkt und beleidigt. Aber.
Ich verstehe auch Ihren Mann. Und zwar ebenso gut, wie ich Sie verstehe. Es ist für viele Menschen noch immer nicht einfach, zuzugeben, dass man sich von einem Psychologen, Therapeuten oder Coach unterstützen lässt. Meine Erfahrung aus meiner eigenen Coaching-Praxis zeigt, dass Frauen diesbezüglich bedeutend unbefangener handeln als Männer. Bis sich ein Mann dazu durchringt, seine Themen mit jemandem Aussenstehenden und nicht über einem Bier zu besprechen, braucht es so einiges. Die Hemmschwelle ist da grösser als bei uns Frauen und der Besuch eines Therapeuten oder eines Coaches ist fast schon stigmatisierend für einen Mann. Da sind sehr strenge Vorstellungen in den Köpfen wie «ein richtiger Mann muss das alleine in den Griff kriegen», oder ähnlich. Da sind wir etwas nachsichtiger im Umgang mit uns selber, wir heulen uns bei unseren Freundinnen aus oder diskutieren stundenlang, was uns auf dem Herzen liegt. Männer machen das in der Regel nicht. Sie machen viel mehr mit sich selber aus. Darum glaube ich Ihrem Mann, wenn er sagt, dass er sich dafür schämt. Ob das nötig ist, oder nicht, steht auf einem ganz anderen Blatt Papier geschrieben.
Aber es gibt auch noch einen weiteren Grund, warum man einen Besuch bei einem Therapeuten verschweigen möchte. Und das sind die Fragen, die man dann beantworten muss. «Warum gehst du da hin? Was bringt es dir? Was besprichst du? Redest du auch über mich?»
Ich weiss ja nicht, wie es Ihnen ergeht, liebe Alice. Aber ich kann extrem gut nachempfinden, dass man diese Fragen nicht beantworten möchte. Ein Coaching oder eine Therapie ist ein sehr intimer Prozess und man möchte diesen nicht nach aussen kehren müssen. Auch nicht gegenüber der eigenen Frau oder dem eigenen Mann.
Und das bringt mich bereits zum dritten und meiner Meinung nach wichtigsten Aspekt dieser Thematik und das ist die grosse Frage, was man alles miteinander teilen muss und will. Muss der Andere immer wissen, was ich tue? Muss er wissen, mit wem ich in meiner Mittagspause esse? Muss er wissen, was in meinem Kopf und meinem Herzen vorgeht? Grundsätzlich würde ich als Wahrheitsfanatikerin viele solcher Fragen mit «ja» beantworten. Aber dennoch bin ich mir nicht sicher, ob es schlau ist. Wir versuchen den Raum des anderen einzunehmen und würden ihn am liebsten lückenlos überwachen. Ich weiss natürlich, dass das niemand freiwillig zugeben würde, schliesslich sind wir in solchen Fragen gerne total auf- und abgeklärt.
Aber ich weiss aus eigener Erfahrung, dass es dennoch so ist. Wir sind beleidigt, wenn wir erfahren, dass unser Partner einen Bereich in seinem Leben und in seinem Alltag hat, von dem wir nichts wissen. Es löst bei uns Ängste aus, den anderen zu verlieren. Wir können mit dieser Ungewissheit nicht umgehen und das elende Handy macht es uns einfach, den anderen immer unter Kontrolle zu haben.
Das war früher anders. Wenn der Mann oder die Frau aus dem Haus ging, war die Person ausserhalb unseres Radars, bis sie abends wieder am Esstisch sass. Heute telefonieren wir kurz in der Mittagspause und schicken zwischendurch eine SMS. Die ständige Verfügbarkeit wird dadurch fast schon zu einer Bringschuld von Informationen. Man erwartet, dass man zu jeder Zeit informiert darüber ist, was der andere treibt. Eltern in den USA chippen ihre Kinder wie Haustiere und verfolgen zu Hause am Bildschirm, wo sich diese befinden. Und am liebsten würden wir das auch mit unseren Männern tun. (Ich schreibe ganz bewusst aus weiblicher Sicht, weil ich dieses Verhalten bei Männern weitaus weniger beobachte als bei Frauen.)
Wir möchten gerne mit dem anderen verschmelzen und in totaler Symbiose leben. Eins sein in unseren Herzen und Gedanken. Das ist als Idee vielleicht ein schöner Plan, aber es gibt Menschen (zum Beispiel mich), denen diese Vorstellung die Luft zum Leben raubt. Nur weil wir unser Leben mit jemandem verbringen, können wir nicht erwarten, dass der Andere keine eigenen Räume mehr hat. Nur weil wir eine Beziehung zueinander haben, bedeutet es nicht, dass wir alles miteinander teilen.
Eine Beziehung lebt von der gemeinsamen Intimität und dem Leben von Nähe. Diese ist aber nur dann möglich, wenn wir auch das Anrecht haben, eigene Bereiche zu pflegen und Gedanken zu hegen, von denen der andere nichts weiss. Obwohl wir vehement abstreiten würden, Geheimnisse vor dem Anderen zu haben, müssen wir Geheimnisse vor dem Anderen haben dürfen.
Eine Paarbeziehung, die keinerlei Geheimnisse mehr hat, führt früher oder später in die Sexlosigkeit von Bruder und Schwester. Eine zu starke Symbiose spielt unserem System familiäre Verhältnisse vor und dieses ist darauf programmiert, Inzest zu verhindern. Darum enden stark symbiotische Beziehungen oft in fehlender Erotik und einem Gefühl von Geschwisterliebe.
Oder kurzum: Wollen Sie alles übereinander wissen und abends Händchen haltend im Bett liegen oder lieber etwas Ungewissheit ertragen und dafür ordentlich vögeln?
Ganz herzlich, Ihre Kafi.
Freut mich für Sie und ich wünsche Ihnen alles Gute!
kann ich als Mann bestätigen ;)