Liebe Regula
Eine Bekannte von mir hat ein Kind in der Unterstufe, wo das Schlagen, Treten und Mobben an der Tagesordnung ist. Sie wohnt in einem Schulkreis mit bildungsnahen, gut situierten Eltern. Dort wird die Lehrerin mit Wörtern eingedeckt wie Schlampe, dumme Kuh, fette Kuh und Ähnlichem. Ihr Sohn kommt mehrmals die Woche weinend heim und sagt jeden Morgen, dass er nicht weiter zur Schule gehen will. In der Klasse dieses Kindes herrscht ein richtiges Angstregime. Ein paar wenige Kinder haben die Führung übernommen und die anderen Kinder, aber auch das Lehrpersonal, unterordnen sich automatisch diesem Klima.
Dem gegenüber steht eine Begebenheit, die sich an der Schule meines Sohnes letzte Woche abspielte. Wir wohnen in einem Schulkreis, der sehr durchmischt ist. Der Prozentsatz der Kinder, welche deutschsprachig aufwächst, liegt bei etwa 10%, die anderen 90 % sind Kinder aus aller Welt und aus allen sozialen Schichten. Mein Sohn kam letzte Woche aus der Schule und erzählte mir, dass sein Lehrer vollends ausgetickt sei und wie ein Irrer durchs Klassenzimmer geschrien habe. Natürlich wollte ich wissen, was da genau passiert war und er erzählte mir, dass ein paar Kinder ein anderes ausgelacht und beleidigt hatten. Natürlich dachte ich sofort an eine wirklich krasse fette Beleidigung, aber es war in meinen Augen eher harmloser Natur, was da gesagt wurde. Mein Sohn erklärte mir, dass schon am ersten Tag in der neuen Klasse thematisiert wurde, was geduldet wird und was nicht. Und dass für das Hänseln und Mobben anderer Schüler eine Nulltoleranz bestehen würde, was der Lehrer an jenem Tag auch recht deutlich vermittelt hat. Und wenn ich auch nicht weiss, ob das allen Eltern so ergangen wäre, ich war rundum begeistert von dieser Anekdote. Diese Leidenschaft und Konsequenz, mit der da die Respektkultur vertreten wird, das finde ich persönlich grossartig. Wenn die Lehrerschaft eine klare Linie hat, dann ist das eine gute Grundvoraussetzung, dass das von Ihnen beschriebene Verhalten nicht einreissen kann. Aber natürlich fängt alles viel viel früher an. Und zwar zu Hause, in den eigenen 4 Wänden.
Ich sehe immer wieder, wie wenig Frusttoleranz man Kindern abverlangt, wie schnell Eltern den Kindern Zugeständnisse machen, damit sie ihre Ruhe haben. Da wird nachgegeben, ruhiggestellt, da lassen sich Eltern bis aufs Äusserste erpressen. Aus Angst, dass das Kind sonst laut ist, eine Szene macht, die Eltern blossstellt. Kinder sind imstande, ein Riesentheater zu machen, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen. Das ist äusserst anstrengend, das weiss ich selber nur zu gut. Und ich weiss auch, dass man nicht immer die Nerven hat, das auszuhalten, da dagegenzuhalten. Aber ebenso weiss ich, dass man weder sich noch dem Nachwuchs längerfristig einen Gefallen tut, wenn man immer einlenkt. Kinder müssen sehr früh lernen, mit ihrem Frust umzugehen. Sie müssen lernen, wie sich ein Nein anfühlt und wie sie das selber aushalten können. Unsere Erziehungsmethoden lassen wenig Freiraum für den Umgang mit dem eigenen Stress. Und zwar auf beiden Seiten nicht. Wie schnell drücken wir Eltern unseren Kindern ein iPhone in die Hand, damit wir im Restaurant in Ruhe essen können. Das mag zuweilen eine tolle Strategie sein, aber sie führt unweigerlich dazu, dass man das Kind immer und jederzeit mit Hilfsmitteln besänftigt. Nicht ohne Grund heissen Nuggis auf English Pacifier und das wiederum auf Deutsch Besänftiger, Friedensstifter.
Ich will damit nicht zu einer Erziehung ohne Hilfsmittel aufrufen. Schliesslich habe ich nur ein einziges Kind und war mit diesem schon knapp überfordert, wie anspruchsvoll muss es da sein, bei mehreren Kindern eine konsequente Erziehung zu verfolgen! Dennoch finde ich es wichtig, dass man sich dieser Strategien bewusst wird und sich auch mal überlegt, welche Konsequenzen daraus folgen können. Kinder auch mal ihrem Frust überlassen und die Folgen aushalten, ist meiner Meinung nach eine der wichtigsten Erziehungstipps überhaupt. Das ist nicht immer bequem, das ist mir bewusst. Aber mit Bequemlichkeit kommt man leider selten weit im Leben.
Und trotzdem lässt sich nicht alles mit Erziehung regeln. Es ist nun mal eine Tatsache, dass ein gewisser Prozentsatz der Menschen einen Hau ab hat. Man kann noch so bedachte und wohlüberlegte Eltern sein und ein Kind in die Wiege gelegt bekommen haben, dass einen an der Waffel hat. Nicht alle pathologisch verschrobenen Menschen entwickeln sich erst im Erwachsenenalter in diese Richtung. Es gibt nun mal einfach Kinder, die so geboren werden. Da hilft dann auch alle gute Erziehung und psychologische Betreuung nichts.
Ein einziges Kind dieser Art kann eine ganze Klasse in eine Richtung lenken, in die sie sich sonst nie bewegt hätte. Wenn eine Lehrperson mit einer Klasse mit 28 Kindern ein solches zu unterrichten hat, läuft sie schnell Gefahr, diesem Ausreisser zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn das passiert, ist es eigentlich schon gelaufen. Der Störenfried bekommt die gewünschte Aufmerksamkeit, der Rest der Klasse hängt dagegen ab. Und merkt schnell, dass es sich lohnt, unangepasst und auffällig zu reagieren. Denn unter dem Strich wollen alle Kinder (und alle Erwachsenen übrigens auch) in erster Linie Aufmerksamkeit geschenkt bekommen. Dieser Dynamik ist schwer beizukommen, hat sie sich erst einmal etabliert.
Wir Eltern und die Schule müssen die Kinder im Auge behalten, eine möglichst enge Beziehung zu ihnen pflegen. Mir ist sehr wohl bewusst, wie schwierig das für eine Lehrerschaft sein muss, die eine allzu grosse Klasse vor sich hat. Darum müssen wir Eltern unsere Verantwortung vollumfänglich übernehmen und dafür schauen, dass die Kinder bereits vor dem Schuleintritt gewisse Regeln des sozialen Miteinanders mitbekommen haben. Mir ist bewusst, dass ich da eine sehr strenge Linie fahre und mich fast schon bei der SVP beliebt mache, aber ich würde den Schuleintritt davon abhängig machen, ob ein Kind dieses Rüstzeug mitbringt, oder nicht. Weil es kann nicht Aufgabe der Lehrer oder Krippenangestellten sein, unseren Kindern das kleine 1 x 1 des Zusammenlebens zu lernen. Unsere LehrerInnen haben einen Stoff zu vermitteln, sie können sich nicht auch noch darum kümmern, unsere Saugoofen zu anständigen Kindern zu formen. Amen.
Mit bestem Gruss. Ihre Kafi.