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Infosekta: Dieser Bericht zeigt die «Versektung» der Gesellschaft

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Die Menschen in einer individualisierten Konsumgesellschaft wollen sich die Seele nicht mehr in der Masse massieren lassen, sondern möglichst individuell.Bild: shutterstock.com
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350 Gruppen betroffen: Dieser Bericht zeigt die «Versektung» der Gesellschaft

Auch wenn das Thema ein wenig aus dem Fokus verschwunden ist: Gesellschaftliche Probleme mit Sekten nehmen zu – wie der Jahresbericht von infoSekta deutlich darlegt.
10.06.2019, 13:35
Hugo Stamm
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Sekten und vereinnahmende Gruppen sind ein verlässlicher Indikator, um den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Zustand einer Gesellschaft einzuschätzen. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Schlechte Zeiten für minderprivilegierte Menschen sind ein guter Nährboden für sektenhafte Bewegungen.

Oder anders herum: Ist die materielle Existenz gesichert und die soziale Geborgenheit intakt, haben die Menschen viel weniger das Bedürfnis, Halt in religiösen oder spirituellen Gruppen zu suchen. Sie leben ganz im Hier und Jetzt und konzentrieren sich mit Vergnügen auf die weltlichen Annehmlichkeiten. Da kann das Übersinnliche getrost warten.

Die grossen Sekten sind im Krebsgang, kleine schiessen aus dem Boden.

Geht es ihnen aber psychisch und wirtschaftlich schlecht, erwacht die Sehnsucht nach einer höheren Macht, eine vermeintlich rettende Heilslehre oder nach übersinnlichen Lebensinhalten.

Studiert man den aktuellen Jahresbericht der Beratungsstelle infoSekta, kann man zum Schluss kommen, dass wir in unsicheren Zeiten leben. Denn die Zürcher Institution hatte 2018 alle Hände voll zu tun.

600 Kontakte mit Ratsuchenden

Konkret: Insgesamt verzeichnete sie 2600 Kontakte mit Ratsuchenden. Das sind satte elf Prozent mehr als im Vorjahr. Diese Entwicklung hält schon seit mehreren Jahren an. So verzeichnete infoSekta 2013 lediglich 1750 Kontakte.

Die Anfragen betrafen 350 sektenhafte Gruppen und Einzelanbieter. Das ist ein Hinweis, wie stark sich die Sektenlandschaft segmentiert. Konkret: Die grossen Gruppen sind im Krebsgang, kleine schiessen aus dem Boden.

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache.

Dies hat primär damit zu tun, dass sich die Menschen in einer individualisierten Konsumgesellschaft die Seele nicht mehr in der Masse massieren lassen wollen, sondern möglichst individuell.

Diese Zahlen sprechen eine klare Sprache. Sie sind auch deshalb bemerkenswert, weil das Sektenthema im Vergleich zu früheren Jahren weitgehend aus den Medien verschwunden ist.

Übersetzt heisst dies: Wer sich bei infoSekta meldet, hat Berührung mit Sekten. Meist nicht direkt, sondern indirekt. Als Angehörige oder Freunde von Sektenanhängern.

Auch Kinder sind betroffen

Mit der Sektenproblematik konfrontiert sind auch Institutionen und Schulen. Das wiederum bedeutet, dass Sekten aktiv sind wie eh und je – auch wenn die Öffentlichkeit oft den Eindruck erhält, das Phänomen sei nicht mehr präsent. Der Jahresbericht zeigt ausserdem eine Tendenz zur Versektung der Gesellschaft.

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Dazu tragen eben auch der Populismus, die Fake-News-Kultur und die rasch wachsende Szene der Verschwörungstheoretiker bei. Letztgenannte generierte auch Anfragen bei der Beratungsstelle.

Doch schauen wir ein paar weitere Zahlen des Jahresberichts genauer an. 83% der Anfragen stammen von Privatpersonen, 17% von Institutionen und Sozialbehörden wie der KESB. Direkt oder indirekt betroffen sind auch Jugendliche und Kinder, wenn beispielsweise ein Elternteil in eine Sekte abrutscht. Dies ist bei mindestens 15% der Anfragen der Fall.

Bei 73% der Anfragen ging es um einzelne Gruppen. Die unrühmliche Hitliste führen die Zeugen Jehovas an (15%). Das ist bemerkenswert. Denn Jahrzehntelang genoss die christlich-fundamentalistische Glaubensgemeinschaft einen gewissen Schonraum. Seit sich viele Aussteiger an die Öffentlichkeit wagen oder in den sozialen Medien ihre erschütternden Berichte veröffentlichen, kämpfen die Zeugen zunehmend mit einem Imageverlust.

Scientology «nur» auf Platz 3

Auffallend ist, dass auch auf Platz zwei (5%) mit «YOU Church» eine weitere Freikirche rangiert. Es werden also zunehmend die sektenhaften Aspekte dieser christlichen Gemeinschaften wahrgenommen.

Mit nur noch 3% der Anfragen hat Scientology ein vergleichsweise «gutes» Resultat erzielt. Es hat aber nicht damit zu tun, dass sich die Sekte gemässigt hätte. Vermutlich liegt es primär daran, dass die amerikanische Pseudokirche den Zenit überschritten hat.

Übrigens: Der Text von Susanne Schaaf im Jahresbericht über die Kirschblütler, die wir hier auch schon thematisiert und diskutiert haben, ist sehr lesenswert.

Hugo Stamm; Religionsblogger
Hugo Stamm
Glaube, Gott oder Gesundbeter – nichts ist ihm heilig: Religions-Blogger und Sekten-Kenner Hugo Stamm befasst sich seit den Siebzigerjahren mit neureligiösen Bewegungen, Sekten, Esoterik, Okkultismus und Scharlatanerie. Er hält Vorträge, schreibt Bücher und berät Betroffene.
Mit seinem Blog bedient Hugo Stamm seit Jahren eine treue Leserschaft mit seinen kritischen Gedanken zu Religion und Seelenfängerei.

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98 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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amRhein
08.06.2019 08:27registriert März 2016
Würde mich interessieren, wieviele Menschen schweizweit hochgerechnet in solchen Sekten sind, ungefähr. Und wieviele starkreligiöse Menschen es gibt. Um ein Verhältnis zu haben.
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Ökonometriker
08.06.2019 09:37registriert Januar 2017
You-Church? 😂
Folgt mir werte Leute, ich gründe hiermit die iChurch!
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Joseph Dredd
08.06.2019 13:42registriert Juli 2014
Ob es unter den Käfern wohl auch Freidenker gibt, obwohl sie alle Insekten sind? XD
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Darf ich mein Kind gegen den Willen seines Vaters taufen lassen?
Ob und welche Religionszugehörigkeit ein minderjähriges Kind hat, entscheiden die sorgeberechtigten Eltern gemeinsam. Will die Mutter das Kind taufen lassen, der Vater aber nicht, ergibt dies eine Pattsituation ohne Stichentscheid. Ist das Kind bereits über 16 Jahre alt, zählt einzig und allein sein eigener Wille.

Egal ob verheiratet, geschieden oder ledig: Die gemeinsame elterliche Sorge ist seit einigen Jahren der Regelfall. Ebenso gilt unabhängig vom Zivilstand, dass die elterliche Sorge dem Wohl des Kindes dienen muss. Einigen müssen sich die Eltern unter anderem über die Religionszugehörigkeit des Kindes.

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