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Wenn der Glaube zum Feind der Vernunft wird, schnappt die Sektenfalle zu

Glauben, Frau, Hirn
Die Sehnsucht nach Erlösung, Erweckung und Erleuchtung ist eine Falle. Sie führt in eine radikale Parallelwelt, in der wir das Koordinatennetz verlieren.Bild: shutterstock.com
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Wenn der Glaube zum Feind der Vernunft wird, schnappt die Sektenfalle zu

Im Alltag sind Vernunft und Verstand wichtige Instrumente, um das Leben erfolgreich zu meistern. In sektenhaften Gemeinschaften werden sie aber unterdrückt.
30.03.2020, 07:30
Hugo Stamm
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Mitglieder von strenggläubigen Gruppen fallen aus allen Wolken, wenn ihre Gemeinschaft als Sekte eingestuft wird: «Ich, ein Sektenanhänger? Das ist völlig absurd», antworten sie aus tiefster Überzeugung. Sekten sind in ihren Augen alle anderen Bewegungen, aber doch nicht ihr eigene.

Zur religiösen oder ideologischen Überzeugung – «wir sind auserwählt und vertreten den einzig wahren Glauben» – kommt die gefühlsmässige Konditionierung. Frisch rekrutierte Gläubige erleben in der Regel ein überwältigendes emotionales Schaumbad, oft eine wahre Euphorie.

In ihrem religiösen Wahn lassen sich freikirchlich Gläubige von Klapperschlangen beissen. Sie glauben, dass Gott sie heilt:

Die vermeintliche Gewissheit, die religiöse Wahrheit und die auserwählte Gemeinschaft gefunden zu haben, lassen die Gefühlswelt explodieren. Alle Sorgen und Nöte fallen von den Missionierten ab, die Zukunft schillert in den schönsten Farben und ist auf alle Ewigkeit gesichert, glauben sie. Die Glücksgefühle sind mit dem Zustand des Verliebtseins zu vergleichen.

Die Empfindungen werden zum Gradmesser des Glaubens.

Doch wir können uns bei der Suche nach der religiösen Wahrheit nicht auf unsere Gefühle verlassen. Meine Erfahrungen mit Sektenaussteigern bestätigen dies. Es scheint sogar, dass spirituelle Gefühle nicht in erster Linie von den religiösen Inhalten abhängig sind, sondern vor allem von suggestiven Elementen.

Intensive Gefühle werden als Ausdruck der Gottesnähe interpretiert

Je stärker die gruppendynamischen Rituale, je übersteigerter die versprochenen Heilserwartungen, desto ekstatischer die Gefühlswallungen. Verhängnisvoll dabei ist, dass die Gläubigen oft den Fehlschluss ziehen, dass intensive Gefühle ein besonderer Ausdruck der Glaubenserfahrung und Gottesnähe seien.

Konkret: Die spirituellen Gefühle werden als Ausdruck der Frömmigkeit gewertet. Noch mehr: Die Empfindungen werden zum Gradmesser des Glaubens.

Gläubige sind überzeugt, dass Gott ihnen die starken Gefühle als Beweis für den richtigen Glauben schenkt. Ein verhängnisvoller Zirkelschluss, der nicht in die Freiheit führt, sondern in die Abhängigkeit.

Die Sehnsucht nach Erlösung, Erweckung und Erleuchtung ist eine Falle. Sie führt in eine radikale Parallelwelt, in der wir das Koordinatennetz verlieren. Vernunft und Verstand werden unterdrückt, Fragen, die im «normalen Leben» automatisch gestellt werden, verdrängt.

Der psychische Ausnahmezustand lässt viele Sektenanhänger glauben, dass überspannte religiöse Phänomene Realität werden können.

Fragen nach Sinn und Zweck. Vor allem aber nach Plausibilität: Ist es möglich, dass ein freikirchlicher Pastor wie einst Jesus schwere Krankheiten heilen oder Tote wieder zum Leben erwecken kann? Spricht Gott wirklich zu mir? Ist es wahrscheinlich, dass man mit Hilfe der scientologischen Kurse ein unsterbliches Genie werden kann?

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Oder: Kann ich nach dem Absolvieren des esoterischen Lichtnahrungsprozesses für den Rest meines Lebens auf Nahrung verzichten? Bauen Avatare oder aufgestiegene Geistwesen tatsächlich ein Metallgitter um unseren Planeten, um die spirituellen Schwingungen auf der Erde zu erhöhen und die spirituelle Entwicklung der Menschheit zu fördern?

Wenn der Geist betäubt wird, flüchtet die Vernunft

Der psychische Ausnahmezustand durch die grosszügige Ausschüttung von Glückshormonen lässt viele Sektenanhänger daran glauben, dass solche völlig überspannten Phänomene Realität werden können. Denn die gruppendynamischen Prozesse in sektenhaften Bewegungen betäuben jene Hirnregionen, die wir zur erfolgreichen Bewältigung des «grobstofflichen Lebens» im Alltag dringend brauchen.

Fazit: Wenn der Glaube zum Feind von Vernunft und Verstand wird, schnappt die Sektenfalle zu.

Hugo Stamm; Religionsblogger
Hugo Stamm
Glaube, Gott oder Gesundbeter – nichts ist ihm heilig: Religions-Blogger und Sekten-Kenner Hugo Stamm befasst sich seit den Siebzigerjahren mit neureligiösen Bewegungen, Sekten, Esoterik, Okkultismus und Scharlatanerie. Er hält Vorträge, schreibt Bücher und berät Betroffene.
Mit seinem Blog bedient Hugo Stamm seit Jahren eine treue Leserschaft mit seinen kritischen Gedanken zu Religion und Seelenfängerei.

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214 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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bbelser
28.03.2020 09:06registriert Oktober 2014
Lieber Hugo Stamm,
und schon wieder kann ich voll und ganz zustimmen. 😉
Ergänzend möchte ich festhalten: sektiererisches Verhalten ist überall dort anzutreffen, wo sich Ideologien verabsolutieren. Das ist keineswegs auf Religion beschränkt, diese ist aber sicherlich immer in Gefahr, ins Sektenhafte abzugleiten. Religionen müssen deshalb viel wachsamer sein auf solche Tendenzen in ihren Reihen.
Ebenso wie auch andere Bewegungen, Parteien, Militär etc. Warnlampe immer, wenn Hierarchien, fixe Überzeugungen, Dogmen und einzigartige Führer im Spiel sind, die dich great again machen wollen.
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bullygoal45
28.03.2020 09:25registriert November 2016
Bin mit vielem Einverstanden. Doch lang nicht mit allem. Bin jetzt seit neustem auch so ein ominöser Aussteiger (😉) - doch was ich mit Bestimmtheit sagen kann. Ich habe mein Glaube nie als DIE Wahrheit angeschaut.

Ich war immer bestrebt andere Blickwinkel und Meinungen in meinen Glauben einfliessen zu lassen. Vielleicht genau deswegen bin ich jetzt weg 🤷🏻‍♂️?
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dorfne
28.03.2020 09:30registriert Februar 2017
Da muss ich Hernn Stamm Recht geben. Es gibt auch politische Bewegungen und Parteien, die wie Sekten aufgestellt sind und dem Wahn verfallen. Letzteren gibt es auch ohne Missbrauch von Bibel und unschuldigen Tieren. MMn sind die Klapperschlangen näher bei Gott, als ihre Peiniger, bei denen Wahn und Grössenwahn nah beinander sind.
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Halten Gott, Jesus und die Bibel einer kritischen Analyse stand? Teste es selbst
Gott und Jesus werden uns in der Bibel vorgestellt, doch die Quellenlage ist dünn und wenig plausibel.

Es fällt uns in der Regel nicht leicht, wichtige Entscheide zu treffen, denn die Konsequenzen sind oft weitreichend. Ausserdem kann sich eine falsche Wahl fatal auswirken. Wer beispielsweise bei der Jobsuche die Weichen schlecht stellt, sich bei der Partnerwahl vertut, sich beim Anlegen des Vermögens verspekuliert oder beim Auswandern mehr dem Gefühl folgt, als Verstand, kann sein Leben ruinieren.

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