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Die Kirchen leeren sich, das religiöse Bedürfnis bleibt aber konstant

India's humanitarian and spiritual leader, Sri Mata Amritanandamayi, aka "Amma", arrives in the Eulachhalle in Winterthur, Switzerland, to embrace thousands of people during her "E ...
Die «heilige Mutter» und Umarmerin Amma bei einem Auftritt in Winterthur.Bild: KEYSTONE
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Die Kirchen leeren sich, das religiöse Bedürfnis bleibt – die Sekten freut's

Esoteriker, Geistheiler und Schamanen sind die neuen Priester, Konsumtempel die Ersatzkirchen.
29.04.2019, 10:33
Hugo Stamm
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Es ist unbestritten, dass das Religiöse immer mehr aus dem öffentlichen Raum verschwindet. Keine zehn Prozent der Schweizer besuchen regelmässig einen Gottesdienst. Nicht einmal mehr die Hälfte glaubt an einen personalen Gott. Und die Quote der Kirchenaustritte bleibt konstant hoch.

Bedeutet dies, dass der Glaube an ein höheres Wesen, an ein Leben nach dem Tod, an spirituelle Phänomene ein Auslaufmodell ist? Sind die meisten Menschen in religiösen Fragen nüchterner und rationaler geworden? Also areligiös? Erleben wir eine radikale Säkularisierung?

Eine Rolltreppe in den Himmel.
Der Weg in den esoterischen Himmel. Mit Rolltreppe.Bild: shutterstock.com

Nein, das wäre ein Trugschluss. Das Bedürfnis nach religiösen oder pseudoreligiösen Ritualen und der Glaube an Magie und Wunder nehmen kaum ab. Die religiösen Institutionen verlieren zwar an Bedeutung, ihr geistiger Kern lebt aber in den meisten Leuten weiter.

Der bekannte deutsche Religionswissenschafter Hartmut Zinser formuliert es so: «Jeder kann machen, was er will, jeder kann aus der Kirche austreten, jeder kann sich sozusagen die Religion raussuchen, die er will. Oder er kann vormittags – wie in Japan – Anhänger des Shinto sein, mittags christlich heiraten und abends buddhistisch sterben. Also alles das ist heute möglich, der markentreue Wechselreligiöse, das kann man vielfältig beobachten. Richtig Säkulare sind sehr selten.»

Ein Aroser Geschäftsmann wird Schamane in Kolumbien:

Säkularisierung und die gesellschaftliche Tendenz zur Individualisierung holen die Kirchen ein. Viele, die noch Kirchensteuer zahlen, zimmern sich ebenfalls ihren eigenen Gott und ihren individuellen Himmel.

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Überall Ersatzgottesdienste

Die Konsumtempel sind die modernen Kirchen. Fussballspiele, Konzerte und andere Events mutieren zu Ersatz-Gottesdiensten. Selbst das virtuelle Internet bietet eine Art geistige Heimat.

Der christliche Glaube, dessen geistige Wurzeln im Altertum liegen, will nicht mehr so recht zum heutigen Leben passen. Doch er hat das religiöse Bewusstsein geprägt, das schon fast in den Genen verankert ist. Der Begriff Gottesgen ist ein geflügeltes Wort. Deshalb bleibt das Bedürfnis nach magischen, spirituellen und übersinnlichen Ritualen und Weltanschauungen ziemlich konstant.

Viel Selbstüberschätzung und Hokuspokus:

Der Berliner Schamane Daniel Atreyu als esoterischer Meister. Video: YouTube/Daniel Atreyu - Geistig-energetischer Heiler & Schamane Berlin

Parallel zum Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen verliert auch die Bibel die göttliche Aura. Junge Leute, die nie in den Gottesdienst gehen, können mit den Geschichten aus dem alten Buch nichts anfangen. Somit zerfällt auch das geistige Fundament der christlichen Kultur. Die meisten haben keine Ahnung mehr, was Pfingsten bedeutet, obwohl sie jedes Jahr mit einem verlängerten Wochenende beschenkt werden.

Mit den Grundthemen Schuld, Strafe und Sühne können sie ohnehin nichts anfangen. Mit der Hölle schon gar nicht. Und den Himmel mit dem alten Mann mit Vollbart finden sie nicht sexy. Aber auch nicht die Vorstellung, dass mit dem Tod alles vorbei sein soll.

Esoterik als Ersatzreligion

Und so suchen viele in der Esoterik einen Ersatz. Oder sie verehren Geistheiler und Naturheilpraktiker als die neuen Medizinmänner oder Schamanen. Sie nehmen die Position der Pfarrer und Priester ein.

Weiter sind die desorientierten Sinnsucher auf dem Radar der Sekten, die ein Rundumpaket anbieten. Denn die Suche nach der eigenen religiösen Wahrheit kann ganz schön anstrengend sein.

Deshalb landen viele wieder bei geschlossenen Heilslehren und spirituellen, esoterischen oder neureligiösen Gruppen, die fertige religiöse Menüs anbieten. Menüs, die meist sehr unbekömmlich sind und für geistigen Durchfall sorgen.

Hugo Stamm; Religionsblogger
Hugo Stamm
Glaube, Gott oder Gesundbeter – nichts ist ihm heilig: Religions-Blogger und Sekten-Kenner Hugo Stamm befasst sich seit den Siebzigerjahren mit neureligiösen Bewegungen, Sekten, Esoterik, Okkultismus und Scharlatanerie. Er hält Vorträge, schreibt Bücher und berät Betroffene.
Mit seinem Blog bedient Hugo Stamm seit Jahren eine treue Leserschaft mit seinen kritischen Gedanken zu Religion und Seelenfängerei.

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190 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Gulasch
27.04.2019 09:24registriert März 2014
Ebenso bieten die Ernährung, die Fitness und die Gesundheit Ersatzreligionen die selbst Atheisten anziehen!
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Olmabrotwurst vs. Schüblig
27.04.2019 08:11registriert Dezember 2014
Mein Neni meinte immer, geht es denn Leuten, der Bevölkerung schlecht zieht es die Leute Automatisch wieder in die Kirchen, wenn sie wieder was brauchen an dem sie sich Festhalten können.
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Denverclan
27.04.2019 16:07registriert September 2016
Es ist einfacher mit der Herde zu ziehen als sein eigener Herr und Meister zu sein. Es gibt diesen einen schönen Spruch: Wer mit dem Leben spielt kommt nie zurecht, wer sich nicht selbst befiehlt bleibt immer ein Knecht. Bringt den Kindern früh bei selbstbewusst und standhaft durchs Leben zu gehen. Verantwortung für den Schwachen zu übernehmen und Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Dankbar und demütig zu sein, wenn man auf der Sonnenseite des Lebens steht. Sonne=nicht Geld sondern Reichtum im Herzen und Geist. Sich selbst sein und nicht verbiegen lassen. Das hat wohl etwas göttliches an sich...
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Es schneit! Darf ich zuhause bleiben?
Wer gestern überhaupt noch nachhause gekommen ist, fragte sich heute wohl nicht selten, ob er nicht besser gleich da geblieben wäre. Fragt sich das ein Schulkind, kann die Antwort durchaus ja sein. Fragt sich das ein Arbeitnehmer, ist die Antwort meist nein.

In der Schweiz herrscht auch bei Schneefall Schulpflicht. Eine Gemeinde darf deswegen nicht generell beschliessen, die Schule bei Schlechtwetter ausfallen zu lassen. Gleichzeitig ändert Schneefall aber auch nichts daran, dass die Kantone für den zumutbaren Schulweg verantwortlich sind. Wenn also der Schulweg zu gefährlich ist, müssen sie die Gefahr beseitigen. Da das bei zugeschneiten Strassen und drohenden Dachlawinen nicht auf die Schnelle möglich ist, kann die Schule Schulkinder dispensieren, sofern sie nicht gefahrlos zur Schule gehen können. Der Kanton Bern sieht dies gar ausdrücklich in seiner Absenzenverordnung für die Volksschule vor: Als entschuldigte Absenzen gelten auch «äusserst schwierige Schulwegverhältnisse infolge schlechter Witterung».

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