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2012 erkrankten in der Schweiz knapp 40'000 Menschen an Krebs, rund 16'500 erlagen im gleichen Zeitraum einem Krebsleiden.
Durch die gigantischen Fortschritte der medizinischen Forschung sterben die Menschen heute hierzulande kaum noch an Infektionskrankheiten, wodurch Krebs – nebst Herz- und Gefässkrankheiten – immer mehr zu einem Thema wird, mit dem sich unsere Gesellschaft auseinandersetzen muss.
Dies betrifft nicht nur die Erkrankten selbst, sondern auch ihre Familien und ihr sonstiges Umfeld – und vor allem ihre Kinder und Enkelkinder (seien sie noch klein oder schon erwachsen) werden durch das grosse K für immer geprägt.
Dies sind die Geschichten dreier Kinder krebskranker Eltern.
«1998 erkrankte mein Vater an Lymphkrebs. An einem Non-Hodgkin-Lymphom. Er war damals 38 Jahre alt. Er musste mehrfach Chemotherapien durchlaufen und bestrahlt werden. Meine beiden Schwestern und ich waren extrem verunsichert. Wir waren zwischen 10 und 14 Jahre alt und hatten unseren Vater nie krank gesehen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er je eine Grippe gehabt hätte, aber möglicherweise bilde ich mir das jetzt nur ein.
Nachdem er krank wurde, wurde alles anders. Während der Behandlung war er wie ein Geist. Es roch anders in unserer Wohnung und es fühlte sich alles anders an. Unser Alltag lief zwar weiter, aber er wurde dominiert vom Zustand meines Vaters – weil er immer wieder weg war, aber noch viel mehr, wenn er da war. Eben, wie ein Geist. Ich erinnere mich, dass ich mich über Monate nicht traute, ihn anzufassen.
Sogar in der Schule hatte sich alles ein wenig verändert. Man fasste uns an wie mit Handschuhen. Wenn ein Kind gemein zu mir war, wurde es von anderen ermahnt: «Ramonas Vater hat Krebs, lass sie in Ruhe.» Manchmal wäre es mir lieber gewesen, ich hätte eins auf die Nase bekommen, als wie ein rohes Ei behandelt zu werden.
Die Therapien schlugen aber an und mein Vater wurde wieder gesund. Trotzdem hatte sich irgendwie etwas verändert, auch zum Positiven. Wir waren alle etwas zusammengerückt. Ich wiegte mich in absoluter Sicherheit, dass ihm nun nie wieder etwas würde passieren können – wenn er das überlebt hat, überlebt er alles.
2011 fühlte sich mein Vater jedoch immer wieder unwohl und schlapp – vor allem mochte er nicht richtig essen, was für ihn enorm untypisch war (lacht). An einem Dienstagabend nach dem Zähneputzen hörte sein Zahnfleisch nicht mehr auf, zu bluten. Am Mittwoch rief er seinen Zahnarzt an, der ihm riet, sich in den Notfall zu begeben. Mein Vater verstand die Aufregung nicht ganz, tat aber, was ihm geraten wurde. Er verbrachte die Nacht im Spital, wo sich sein Zustand weiter verschlechterte. Am Donnerstag dann die Diagnose: Akute lymphatische Leukämie. Mein Vater blieb bis Montag im Krankenhaus in Zürich und wurde am Dienstag nach Baden verlegt. Im Krankenwagen verlor er das Bewusstsein. Er starb am Freitagabend um 20.04 Uhr, acht Tage nach der Diagnose. Er war 51 Jahre alt.
Wir hatten zu wenig Zeit, aber auch zu viel. Ich kenne niemanden, der so schnell an einer Krankheit gestorben ist wie mein Vater. Krebs gibt einem normalerweise die Möglichkeit, Abschied zu nehmen, Dinge zu klären, zu lösen – aber er quält einen, weil man das Leid des geliebten Menschen mitansehen muss. Auf der anderen Seite reisst einem ein Unfall zwar das geliebte Elternteil weg, aber man weiss, dass er oder sie nicht leiden musste. Wir hatten irgendwie Zeit und irgendwie nicht. Wir waren so im Schock und am Anpassen an diese neue Situation, dass er uns entglitt, während wir noch keinen Boden unter den Füssen hatten. Ich weiss noch, wie ich an seinem Bett stand, als er gestorben war, und es war völlig bizarr. Wie ein richtig schlechter Traum. Ich ertappte mich auch immer wieder dabei, wie ich ungläubig den Kopf schüttelte, in der Hoffnung, zu erwachen.
Ich bin froh, dass er nicht lange leiden musste. Aber der Abschied von ihm hat mir das Herz gebrochen und es tut auch zehn Jahre später noch fürchterlich weh. Und ja, ich frage mich manchmal: Wieso er? Wieso zweimal Krebs, in so jungen Jahren? Mein Vater bekam bei seiner Lymphombehandlung eine Zytokintherapie, welche manchmal mit der Entstehung von Leukämie in Verbindung gebracht wird – da tendiert man natürlich auch dazu, den Ärzten Vorwürfe machen zu wollen. Generell sucht man jemanden oder etwas, dem man die Schuld an dieser Tragödie geben kann. Neutral betrachtet war es niemandes Schuld. Und das ist vielleicht das, was am schwersten auszuhalten ist.
Ich wünschte, er hätte meine Tochter kennenlernen können. Ich wünschte, ich könnte ihn anrufen. Er fehlt mir so oft. Wenn ich noch einmal zurück könnte, würde ich ihm öfter sagen, wie sehr ich ihn liebe, und mit ihm Sachen unternehmen. Er liebte den Wald. Ich würde mit ihm und meiner Kleinen in den Wald und einen Cervela bräteln. Das wäre mein grösster Wunsch.»
Ramona, 32 Jahre, in liebevoller Erinnerung an ihren Vater Manfred
«Auf einmal hatte sie immer wieder Ausfallerscheinungen (Anm. d. Autorin: Gefühlsstörungen und Taubheit in den Extremitäten), Black-outs und sie war ständig müde. Die Ärzte fanden erstaunlich lange nicht heraus, was sie hatte. Nach einem epileptischen Anfall machte man ein MRI ihres Gehirns und da war er: ein Tumor. Das war im Januar 2007. Man operierte ihn heraus und biopsierte ihn, um herauszufinden, ob er gut- oder bösartig war. Nach einer (elend langen) Woche des Wartens kam die Diagnose: bösartig. Ein Glioblastom. Glioblastome, das sind die Terminatoren der Gehirntumore (Anm. d. Autorin: Aktuell liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei einem Glioblastom ohne Behandlung bei wenigen Wochen, mit Behandlung bei 15 Monaten).
Nach der Operation musste sie zwei Monate in die Reha, musste wieder lernen, zu laufen. Und sie wusste, sobald der Krebs zurück wäre, würde man ihr nicht mehr helfen können. Ich weiss noch, damals erschien das Buch Einen Sommer noch von Eric Baumann – das passte. Anfangs kümmerten sich ihre besten Freundinnen, meine Schwester, meine Grossmutter und ich um sie. Dann verbesserte sich ihr Zustand. Den Sommer 2007 hindurch ging es ihr richtig gut, sie konnte sogar allein zuhause sein, selber einkaufen.
Im Oktober dann aber die Hiobsbotschaft: Da ist wieder was auf dem MRI. Ich habe das Gefühl, das brach sie auch psychisch und es ging ihr körperlich rapide schlechter. Bald begab sie sich ins Hospiz Lighthouse. Doch sie starb nicht rasch. Sie wurde anderthalb Jahre lang dahingerafft. Und das Schlimme an einem Hirntumor ist, dass er den Menschen verändert. Das war irgendwie nicht mehr meine Mutter, aber irgendwie doch. Sie war oft verwirrt, rief mich mehrfach hintereinander an, weil sie schon wieder vergessen hatte, dass wir bereits geredet hatten.
Bei mir war das irgendwie seltsam. Ich kannte die Diagnose, wusste um die Prognosen, sah, wie sie zerfiel – und trotzdem gelang es mir, das Ganze zu verdrängen, solang sie da war. Ich war nie völlig fertig vor Angst.
Ende Mai 2009 sagte man uns, nun handle es sich nur noch um Stunden, doch meine Mutter lebte noch zwei Wochen weiter. Am 9. Juni hatten sich alle, die sich um sie gekümmert hatten (wieder ihre beiden besten Freundinnen, meine Schwester, meine Grossmutter und ich) in ihrer Wohnung versammelt, um Logistisches zu besprechen. Sobald die letzte Person anwesend war, klingelte das Telefon und man unterrichtete uns, dass meine Mutter gestorben war. Ich hatte gewusst, dass das kommen würde, und trotzdem stand ich unter Schock.
Der totale Zusammenbruch kam dann, als ich sie tot auf ihrem Bett liegen sah. Trotzdem ging ich am Abend noch arbeiten, hauptsächlich, weil ich wusste, dass ich es allein zuhause nicht aushalten würde. Die Beerdigung war dann schon viel gelöster und erleichterter. Ich konnte mit ihren Freunden zusammen sogar wieder lachen. Wir haben sie auf einem Friedhof ohne Grabstein bei einem Baum beerdigen lassen und obwohl wir nie konkret darüber geredet haben, bin ich sicher, das wäre in ihrem Sinne.
Wir hatten eine sehr spezielle Beziehung – meine Mutter war absolut bedingungslos und urteilsfrei. Ich habe sehr viel Scheiss angestellt als Jugendlicher, aber sie hat mich immer wieder rausgeholt. Deshalb vertraute ich ihr blind. Ich kann mich sogar erinnern, dass ich sie einst anrief, als ich nicht mehr von einem Pilz-Trip runterkam und Panik hatte – da blieb sie acht Stunden mit mir am Telefon, bis ich wieder bei mir war. So war sie. Manchmal habe ich heute noch das Gefühl, sie im Quartier von weitem zu sehen. Sie fehlt mir.»
Samy, 37 Jahre, in liebevoller Erinnerung an seine Mutter Barbara
«Ich sass 2010 im Zug, als mein Vater mich anrief. Wie immer fragte er, wie es mir ginge, und ich plapperte los, von bevorstehenden Prüfungen und meinem Freund, der mich geärgert hatte. Mein Vater hörte mir geduldig zu, wie jedes Mal. Dann fragte ich, wie es ihm ginge, und er wurde ernst. Er hatte diese leicht belegte Stimme, die ich so gut kenne und die nie Gutes verheisst. «Ich war kürzlich beim Arzt ...» Viel mehr weiss ich von dem Gespräch nicht mehr. Nur noch, dass ich ihn irgendwann unterbrach und fragte: «Ist das Krebs, was du beschreibst?», und er sagte: «Ja.» Danach habe ich noch das Bild eines Teenagermädchens im Kopf, das mir eine Flasche Wasser brachte und fragte, ob sie etwas tun könne – ich muss fürchterlich beieinander gewesen sein.
Ich komme aus einer Ärztefamilie, auch mein Vater ist Arzt, und ich selber verfüge auch über ein gewisses medizinisches Grund-Knowhow; vor allem habe ich aber Ahnung von Statistik. Das brachte mir jedoch absolut nichts, auch wenn ich in den Tagen darauf von den guten Prognosen las und ich kognitiv wusste, was sie bedeuteten. Ich fühlte mich auf einmal wie ein kleines, hilfloses Kind und mein ganzes Wesen sah den Anker meines Lebens von einem schwarzen, bösen Monster bedroht.
Die Operation verlief gut, sehr gut sogar. Zwei Jahre später jedoch begannen seine Werte, sich wieder zu verschlechtern. Relativ früh war klar, dass der Krebs wieder da war und dass er müsste bestrahlt werden. Und wieder waren diese Ängste da. Dieses Gefühl des Unvorbereitet-Seins, des Noch-nicht-bereit-Seins, meinen Vater zu verlieren, obwohl ich schon 32 war. Bei Scans in der Vorbereitung der Behandlung wurde ein weiterer, unabhängiger Tumor gefunden, zwar im Kopf, aber dafür (zumindest soweit man das sagen kann) relativ harmlos.
Und das ist nun der Status. Mein Vater hat Krebs. Krebs, der sonst immer allen anderen passiert. Und das macht mir fürchterliche Angst. Sie ist zwar nicht konstant da, beherrscht nicht meine Träume oder schränkt meinen Alltag komplett ein, aber sie taucht immer mal wieder auf. Da und dort: Was ist, wenn ...? Und wenn mein Vater seine «ernsthafte Stimme» anschlägt (aus welchem Grund auch immer, vielleicht auch nur, weil er einen Frosch im Hals hat), dann wird mir innert Sekundenfrist schlecht und ich habe Panik vor einer weiteren Hiobsbotschaft.
Gleichzeitig schüttelt einen die Krankheit auch immer wieder aus der falschen Illusion, dass die Eltern für immer leben. Ich würde mir das wünschen, wie das wohl viele «Kinder» tun, aber es ist nicht so. Der Krebs scheucht einen hoch und sagt: Noch ist er da. Wenn ich Zeit mit meinem Vater verbringe, dann habe ich nicht konstant eine Stimme im Kopf, die mir sagt: GENIESSE, GENIESSE, GENIESSE.
Und doch sage ich öfter danke, halte ich inne, wenn wir zum Beispiel zusammen im Garten sind, und sage: «Händ mir’s schön, gäll?» Und ich traue mich auch eher, grosse und kleine Fragen zu stellen, auch unangenehme. Damit ich einst nicht da stehe und sage: Ich hätte noch so viel wissen wollen ...
Yonni, 34 Jahre, mit Liebe und Dankbarkeit für ihren Vater Thomas
Meine Mutter ist vor über 20 Jahren an Krebs gestorben, ich war 14, meine Schwester 12... Es gibt auch heute noch Momente, die weh tun, oder wo ich mir überlege, wie es wohl wäre, wenn sie noch leben würde. Soviel unseres Lebens hat sie verpasst! Aber unser Motto war immer: "Das Leben geht weiter!" Und so ist es auch heute noch!
Was zurück bleibt ist ein grosses Loch, das zu einer psychischen Entwicklungsstörung führte.
Ich versteh jeden, der mir eine solche Geschichte erzählt, und steh hinter jedem einzelnen.