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Die Tage werden kürzer, die Welt grauer, die Gemüter schwerer. Obwohl jahreszeitenabhängige Depressionen eher selten sind, sind viele Menschen im Herbst und im Winter grundsätzlich melancholischer als sonst.
Depressionen sind ein schwieriges, im wahrsten Sinne ein «schweres» Thema, das ist mir bewusst. Und gerade deshalb ist es wichtig, dass man ab und zu daran erinnert.
Kürzlich passierte es einmal mehr: Ich sah, wie sich jemand auf Facebook über einen Suizid im Personenverkehr beklagte. «OMG, mueses unbedingt grad uf minere Stecki sii?? Söll doch noimet andersch vor de Zug gumpe, egoistische Tubel», lautete die sinngemässe Parole.
Mich machte das kurzzeitig absolut sprachlos. Ich war mit dieser Person nicht befreundet, hätte den Status aber trotzdem kommentieren können und ich war auch drauf und dran ... Schraubte dann aber die Emotionen etwas runter und die Kognitionen etwas rauf und überlegte mir, was es eigentlich bedeutet, wenn jemand so etwas schreibt.
Ich glaube, dass Depressionen und ihre Folgen (u.a. Suizid) sehr schwer zu verstehen sind, wenn man selber nicht in irgendeiner Weise davon betroffen ist.
Ich führe noch heute manchmal Gespräche mit Leuten, die ich für emotional intelligent und einfühlsam halte, die dann aber Dinge sagen wie «Jeder ist so glücklich, wie er/sie will» oder «Wer seine Karre in den Dreck fährt, der muss sie selber wieder rausziehen». Grundsätzlich bin ich mit diesen Aussagen einverstanden – wenn es um gesunde Menschen geht. Um stabile Menschen. Ich bin durchaus auch der Ansicht, dass man sich sein eigenes Glück schaffen kann und dass man Verantwortung übernehmen soll, wenn man Scheisse gebaut hat.
Aber: Jemandem mit einer depressiven Störung zu sagen, er/sie soll die übertragene «Karre» selber aus dem Dreck ziehen, ist, als ob man jemandem mit zwei lahmen Beinen sagen, er soll ein tatsächliches Auto aus dem Matsch hieven. Sich eben gerade nicht selber helfen zu können, ist eins der Kerncharakteristiken einer depressiven Erkrankung.
Ich werde hier nun einmal versuchen, als Fachfrau und als Betroffene zu beschreiben, was eine Depression ist und wie sie sich anfühlt. Vielleicht ist es dann etwas leichter, nachzuvollziehen, was diese Krankheit für Betroffene bedeutet.
Von einer schweren depressiven Episode spricht man gemäss der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10), wenn der/die Betroffene praktisch non-stop von seiner/ihrer Krankheit eingenommen ist, deutlichen Interessens- und Freudesverlust an sonst angenehmen Aktivitäten und verminderten Antrieb oder gesteigerte Ermüdbarkeit zeigt. Dazu kommen je nachdem Verlust des Selbstwertgefühls, unbegründete Selbstvorwürfe/unangemessene Schuldgefühle, wiederkehrende Gedanken an Suizid oder Tod, verminderte Denk- oder Konzentrationsfähigkeit und Unentschlossenheit, (psycho-) motorische Über- oder Unteraktivität, Schlafstörungen und geminderter oder übermässiger Appetit inklusive entsprechender Gewichtsveränderung.
Nun stelle man sich einmal vor, all diese Dinge passieren mit einem, ohne dass man irgendetwas falsch gemacht hat. Man kommt, ohne zu wissen warum, morgens nicht mehr aus dem Bett. Man empfindet einfach keine Freude mehr, so sehr man es auch versucht.
Man ist allein in der Dunkelheit und beginnt, sich zu alledem auch noch Vorwürfe zu machen, weil man sich undankbar fühlt – eigentlich hat man ja alles, was man braucht, und man ist trotzdem einfach todtraurig. Man ist dieser bleiernen, lähmenden Trauer komplett ausgeliefert, fühlt sich als Last für alle anderen und dann kommen diese leisen Gedanken, dass es wohl wäre besser für alle Beteiligten, wenn man nicht mehr da wäre.
Und dann kommt jemand daher und sagt: «Jede/r ist so glücklich, wie er/sie will...»
Nur, weil man eine Krankheit nicht sieht oder sichtbar machen kann, bedeutet das nicht, dass sie nicht existiert. Dass es schwieriger ist, den Schmerz nachzuvollziehen, wenn man ihn noch nie selber gespürt hat, verstehe ich. Ich hatte aber auch noch nie ein gebrochenes Bein, weiss aus Beschreibungen jedoch ganz genau, dass es höllisch weh tun muss. Genauso kann, abgeleitet aus der obigen Beschreibung, wohl jede/r nachvollziehen, dass es hundeelend ist, an einer Depression zu leiden.
Es ist so elend, dass manche Betroffenen nach Jahren oder gar Jahrzehnten einfach müde sind – lebensmüde. Wenn wieder alles von vorne beginnt, wenn der Kampf einfach schon zu lange dauert, wenn die Hoffnung auf ein einigermassen zufriedenes Leben erlischt.
Der Mensch hat grundsätzlich einen gigantischen Lebenswillen, es ist seine erste und wichtigste Aufgabe, sich selber am Leben zu halten – alles andere ist zweitrangig. Wenn ein Mensch sich also vor einen Zug wirft, dann ist er genau das Gegenteil eines «egiostischen Tubels». Es ist die ultimative Selbstzerstörung. Es widerspricht allem, was die Natur für uns vorgesehen hat. Und nicht einmal ich, die ich schon die eine oder andere depressive Episode durchlebt habe, kann mir vorstellen, wie traurig, verzweifelt und gebrochen jemand sein muss, um das kostbarste Gut, das wir besitzen, nämlich das Leben selbst, aufzugeben.
Das macht es für Zeugen solcher Vorfälle nicht einfacher, das ist mir bewusst; einen Suizid zu beobachten ist fürchterlich. Solche Entscheidungen sind aber – in den allermeisten Fällen – fern von jeder Rationalität und unterliegen nicht mehr der Kontrolle des Suizidalen, der einfach nur noch will, dass der Schmerz endlich aufhört.
Seien wir also vielleicht etwas sanfter in unserem Urteil über die Handlungen anderer. Achten wir stattdessen aufeinander, hören wir hin, fragen wir nach. Und seien wir uns – im Gegenzug – doch auch unserer eigenen Fähigkeit, Glück und Freude zu verspüren, heute einmal von Herzen bewusst.
Da Du die Melancholie erwähnt hast (die oft als Synonym zu Depression verwendet oder als depressives Verhalten angeschaut wird), möchte ich etwas anfügen.
Es gibt eine antike griechische Quelle, welche die Melancholie als "edelster Gemütszustand" bezeichnet. Weil man zwar traurig, nachdenklich und grüblerisch ist, aber durchaus noch kreativ und handlungsfähig.
Bei der Depression fallen Kreativität und Handlungsfähigkeit leider weg.
Depressionen sind so mächtig, dass sie, wie du schon gesagt hast, den mächtigsten Instinkt den wir haben- den Überlebensinstinkt- aushebeln.
Dafür kann niemand etwas. Zu sagen, man soll doch einfach wieder glücklich sein ist etwa so, wie einem blinden Menschen zu sagen, er solle halt die Augen öffnen um besser zu sehen.