Ein Wolf. Der Vergleich mit einem Wolf fällt dem Chronisten am Loipenrand spontan zu Dario Cologna ein. Ausserhalb des lärmerfüllten Zieleinlauf-Stadions, draussen an der Strecke ist die Ruhe in dieser wunderbaren Winterlandschaft geradezu idyllisch. Ab und zu branden Anfeuerungsrufe für einen russischen Athleten auf und dann senkt sich wieder Stille über das Winterwunderland.
Die Spitzengruppe der Läufer huscht beinahe geräuschlos vorbei wie ein Rudel Wölfe, das sich an die Fersen eines fliehenden Wildes geheftet hat. Elegant, dynamisch, lautlos und unter höchster Anspannung. Ein faszinierendes Schauspiel. Allein der optische Unterschied zwischen dieser Spitzengruppe und den schwerfällig laufenden, fast stampfenden Nachzüglern ist enorm.
Mittendrin in diesem Wolfsrudel an der Spitze, das aus bis zu 17 Läufern besteht und erst ganz am Schluss zu einem Quartett schrumpft, ein roter Läufer mit der Nummer 21. Dario Cologna. Er fällt nicht nur wegen der Farbe seines Rennanzuges auf. Er scheint die Situation, das Rudel jederzeit zu kontrollieren. Runde für Runde. Er hat eine ganz besondere Ausstrahlung. Ein Leitwolf. Und tatsächlich: Am Ende wird er triumphieren. In einem Schlussspurt, der schon fast ein Naturereignis ist.
Es ist einer der erstaunlichsten olympischen Triumphe aller Zeiten. Genau vor 90 Tagen, am 11. November 2013, scheint Dario Colognas olympischer Traum jäh zu enden: Misstritt beim Joggen. Drei Bänder im rechten Fuss gerissen. Heilungszeit voraussichtlich sechs Monate. «Ich habe damals im ersten Augenblick gedacht: Was soll ich nun noch in Sotschi?»
Die Vorbereitung läuft von nun an ganz anders als geplant. Erst am 19. Dezember kann er erstmals wieder Langlaufen. Er bestreitet nur wenige Rennen. «Ich habe auch darauf geachtet, dass ich möglichst wenig Energie durch Reisen verliere und bin bei der Schweizer Meisterschaft statt bei Weltcuprennen gestartet.» Dass er durch die Verletzungspause letztlich auch Energie gespart habe, könne durchaus sein.
Verrückt – aber es stimmt: Der Olympiasieger hinkt immer noch. Er ist aus medizinischer Sicht nach wie vor nicht fit. «Meine Verletzung heilt normalerweise in sechs Monaten. Jetzt sind erst drei Monate vorbei und ich müsste eigentlich noch einen Stützschuh tragen. Es ist noch nicht alles so, wie es sein sollte. Aber hinken? Nun, ich laufe noch nicht ganz rund ...»
Die Zweifel, ob es denn klappen könnte, seien nie ganz verschwunden. Zweifel habe es auch noch am Morgen des Renntages gegeben. «Aber ich fühlte mich gut und selbstsicher. Ich wusste ja, dass mir diese Strecke liegt.» Dario Cologna hat vor einem Jahr hier den vorolympischen Wettkampf gewonnen.
Der ganze Heilungsprozess habe ihn persönlich weiter gebracht. «Ich habe gelernt, Geduld zu haben und noch besser auf die Signale meines Körpers zu achten. Es reichte ja nicht, einfach zu trainieren. Ich musste wegen meiner Verletzung auch sorgfältig darauf achten, wie ich trainiere.»
Als Olympiasieger könne er nicht gut sagen, er sei nicht in Höchstform. «Auch wenn diese Verletzung noch nicht ganz verheilt ist, so kann ich doch sagen, dass ich mich hundertprozentig fit fühle.»
Im Augenblick seines grössten Triumphes kamen ihm die Tränen. «Da ist so viel zusammengekommen und die Gefühle, die Emotionen haben mich überwältigt. Es war, nach allem, was in dieser Saison war, mein schönster Sieg.»
Dario Cologna hatte vor den Spielen gesagt, er hoffe, dass er am Ende in besserer Form sei werde als am Anfang. Nun hat er schon das erste Rennen gewonnen. «Man soll nicht immer alles glauben, was gesagt wird. Es war halt so eine Aussage, die an einer Medienkonferenz gemacht wird. Aber ich habe diese Saison ja noch nicht so viele Rennen bestritten und ich ging schon davon aus, dass es mit jedem Rennen hier besser geht.»
Er werde alles geben, um eine weitere Medaille zu gewinnen. Er setzt sich keine Grenzen. «Aber es ist so schwierig, Olympiasieger zu werden. Es muss einfach alles stimmen.» Am Dienstag ist das nächste Rennen. Der Sprint. «Es wird etwas stressig bis dahin. Aber als Sieger nimmt man den Stress gerne auf sich ...»
Dario Cologna verlässt den Medienkonferenz-Raum. Er wirkt bereits eine Stunde nach seinem grossen Triumph ruhig, unaufgeregt, auf eine sympathische Art bescheiden und gelassen. Irgendwie ein paar Nummern grösser als die beiden anderen Medaillengewinner. Und wieder fällt dem Chronisten das Bild vom Leitwolf ein. Ja, so wirkt er auch neben der Loipe. Ein grosser, ein ganz grosser Champion.