Wir sind bei watson ja fast wie eine Familie. Und was macht man in Familien? Man erzählt sich die immer gleichen Geschichten von früher.
Aus gegebenem Anlass grabe ich eine Story aus meiner Gymizeit hervor – ich bin mir sicher, ich habe sie bei watson bereits einmal erzählt.
Damals, in den frühen 90ern, gab es diesen einen speziell angefressenen Computerfreak in meiner Parallelklasse. Später gründete er erfolgreich verschiedene Computerfirmen – doch schon damals war er uns hard- und softwaremässig eine Nasenlänge voraus. Die neusten Must-have-Games besass er stets als Erster.
Und weil wir das wussten, und es noch kein YouTube, kein Instagram und keine Influencer gab, bildeten sich am Morgen nach Veröffentlichungsterminen jeweils Trauben um den jungen Burschen aus Wallisellen: «B.! Erzähl vom neuen Monkey Island!» «Ist es lustig? Bist du schon weit? Ist es besser als ‹Space Quest›?»
Und Bs Antwort lautete – bei so ziemlich jedem Game: «Geile Grafik, geiler Sound».
Und so wurde «Geile Grafik, geiler Sound» in gewissen Kreisen der Kanti Oerlikon (heute Kantonsschule Zürich Nord. Liebe Grüsse dorthin!) zu einem geflügelten Wort für simples Vergnügen. Für ein Vergnügen ohne tieferen Sinn, ohne viel Substanz.
Wie war die Party? Geile Grafik, geiler Sound.
Was hältst du vom Lancia Delta Integrale? Geile Grafik, geiler Sound.
Wie gefällt dir eigentlich S. aus der 4b?
Es tut mir leid ... damals waren die Zeiten noch anders.
Apropos anders: Dies ist kein Spieletest. Bei Spieletests hat der Tester das Game in der Regel bis zum Ende durchgespielt. Ich habe das nicht. Wie ihr alle auch erstand ich «Black Myth: Wukong» (BMW) gestern im Laden. Ich habe es also nur angezockt – und das auf der PS5. Nach meinem Wissensstand gab es für die Playstation gar keine Reviewexemplare.
So.
Gestern erschien nun also wieder einmal eines dieser Must-Have-Games. Und es schlug ein, wie eine Bombe. Auf Steam pulverisierte «Black Myth: Wukong» gleich ein paar Rekorde. Noch nie wurde ein Spiel gleichzeitig von so vielen Spielern gespielt. Und noch nie wurden gleichzeitig so viele Daten von Steam-Servern heruntergeladen: 70 Terrabyte pro Sekunde. Der Hype ist gigantisch. Jeder, seine Tante und ihr Kolibri zocken gerade BMW.
Und wie ist das Spiel?
Geile Grafik, geiler Sound.
Damit ist es leider schon fast alles gesagt – und die Aussage ist erst noch zur Hälfte gelogen.
So wirklich glänzt BMW nur an der Oberfläche.
Ja, die Kämpfe gegen die verschiedenen Hauptgegner sind interessant – und bisweilen sind sie fast schon bombastisch inszeniert. Das müssen sie auch, denn das Game positioniert sich im Souls-like-Genre (Games, die sich am Klassiker «Demon’s Souls» orientieren). Herausfordernde Fights gegen überdimensionierte Gegner sind das eigentliche Hauptthema in diesem Genre. Und diese sind bei BMW zwar nicht herausragend, aber doch recht ordentlich umgesetzt. Über 80 solcher Kämpfe soll es im gesamten Game geben. Tipptopp!
Herausragend in BMW ist die Ausleuchtung der Szenarien. Selten haben Landschaften, selten hat Fantasy so real ausgesehen – und gleichzeitig so dramatisch. In dem Bereich sind die chinesischen Entwickler von Game Science ihrem Namen absolut gerecht geworden.
Ebenfalls gelungen ist das Kampfsystem. Wie immer in diesem Genre dauert es ein paar Stunden, bis man sich daran gewöhnt hat (beispielsweise an die Verzögerung beim Konsum von Heiltränken). Wer es mag, gegnerische Attacken und Verschnaufpausen auswendig zu lernen, und häufiges Scheitern als wichtigen Part des Lernprozesses akzeptiert, der kommt mit BMW auf seine Kosten.
Einen direkten Vergleich mit Games von FromSoftware wie «Elden Ring» oder «Dark Souls» wäre indes vermessen. Dafür reagiert das Spiel etwas zu unpräzise, dafür gibt es zu viele Glitches, und dafür sind die Hitboxen der Gegner zu wenig nachvollziehbar. Dafür knallts, krachts und böllert es mehr als bei FromSoftware. Alles in allem sind die Kämpfe in BMW eine Mischung aus 45 Prozent «Elden Ring», 45 Prozent «God of War» und 10 Prozent Unfall.
Wo kann BMW weiter punkten?
Die tierischen Gegner – und die tierische Spielfigur – sind für einmal etwas anderes. Allesamt fantastisch animiert, notabene. Und auch die Story, die sich am chinesischen Klassiker «Die Reise nach Westen» orientiert, hat gewisse interessante Momente. Das Game macht also schon ein paar Dinge richtig.
Aber es vernachlässigt auch vieles.
Das Leveldesign wirkt wie die Tattoos auf Steve Os Rücken: fast schon bewusst schlecht, wie von einem Knastbruder designt und ohne Liebe hingehackt. Darüber wurden dann wie Oliven auf einer Pizza die Gegner verteilt, schön regelmässig, damit bei jedem Abschnitt was mitkommt. Keine Abwechslung, keine Herausforderung … alles, was sich bei BMW zwischen den Hauptkämpfen abspielt, ist komplett belang- und höhepunktelos. Reine Zeitverschwendung.
Das fällt umso mehr ins Gewicht, als es dem Spiel schwerfällt, Atmosphäre zu vermitteln. Genau in diesen Zwischensegmenten wäre Raum für Story, für Emotionen, für Tragik. Doch darauf wurde verzichtet. Genauso, und das ist jetzt eine Vermutung, wie auf einen Sounddesigner. Geile Grafik ja, geiler Sound, leider nein.
Ein fünf Meter grosser Titan, ein sogenannter Wandering Wight, schleppt sich durch den Wald. Da zittert nichts, da kracht nichts, da basst nur sehr wenig. Rein akustisch federt der Koloss durch den Wald, als würde er die neusten Jogger von On tragen. Absolute Bild-Ton-Schere.
Ein ähnliches Problem sind die zahlreichen unsichtbaren Wände in den arg linearen Levels. Immer wieder wird meine Erkundungstour gestoppt von unsichtbaren Hindernissen. Wieso kann ich jetzt nicht über diesen Stein springen, der 45 Zentimeter hoch ist? Es ist eine Qual. Genauso wie die Gegner zwischen den Hauptkämpfen. Sie sind dermassen schwach – und die Hauptgegner stark, dass BMW locker als Intervalltrainer durchgeht. Puls 180 während der Hauptkämpfe, fast schon komatöse 45 während den Zwischensequenzen. Auch hier: Die Schere ist einfach zu gross.
Der Levelbaum des Hauptcharakters ist umfangreich … aber es fehlt das gewisse Etwas, die magische Zutat, damit der Funke endgültig überspringt. Ich habe bisher kein einziges eigenständiges originelles Merkmal des Spieles ausmachen können – mal abgesehen von den tierischen Gegnern.
Versteht mich nicht falsch.
Dieses Game wurde von einem Indie-Hersteller entwickelt. Zu Beginn (2018) arbeiteten gerade einmal sieben Nasen an BMW, 2020 waren es 30 (erst gegen Ende waren es über 100).
Unter diesen Umständen wurde ein okayes Game produziert. Auch ich freue mich wieder auf heute Abend, wenn ich Tiere/Monster verkloppen kann. Denn ich bin einfach gestrickt und kann über offensichtliche Mängel hinwegsehen. Manchmal reicht mir auch simples Vergnügen, ohne tieferen Sinn, ohne viel Substanz. Geile Grafik, geiler Sound. Dem Hype wird das Game damit aber nicht gerecht. Bahnbrechend ist BMW nicht, richtungsweisend schon gar nicht.
Und wer ein komplett durchdachtes, mit viel Liebe zum Detail poliertes AAA-Game erwartet, modern, mitreissend, mit einem philosophischen Überbau, der der Spielperson gar noch den Spiegel vorhält ... Nun ja. Davon ist BMW meilenweit entfernt.
Black Myth: Wukong gibt es für PC (Achtung! Sehr hohe Hardware-Ansprüche) und PS5.
PS: Ich erwähne die Kontroversen um die vulgären Statements des CEOs bewusst nicht. Sie haben auf die Qualität des Spieles keinen Einfluss. Ausserdem ist mir die Diskussion dazu, ganz ehrlich, in diesem Rahmen einfach zu dumm.